Schreiben Vortrag | Essay

Werbung und Kreativität – Blenden und Blending.

Warum sich die Kreativitätspsychologie mit Metapherntheorie beschäftigen sollte.

„Creativity is intelligence having fun.“

Albert Einstein

Dieses Zitat wird Albert Einstein zugeschrieben und ist allein schon deshalb kreativ, weil es als Formel angelegt ist und formal eine gewisse Nähe zu Einsteins Relativitätstheorie aufweist. Aber – was genau ist Kreativität und worin besteht der Spaß, den Intelligenz haben könnte? Mal ganz abgesehen von der Frage wer oder welche kortikale Strukturen mit Intelligenz gemeint sind.
Ich begrüße Sie zu meinem Vortrag. Werbung und Kreativität – Blenden und Blending. Warum sich die Kreativitätspsychologie mit Metapherntheorie befassen sollte.
Ich möchte in diesem Impulsvortrag im ersten Teil Kreativität als Forschungsobjekt darstellen, um dann im zweiten Teil die Metapherntheorie nach Lakoff in Verbindung mit dem Conceptual Blending nach Fauconnier und Turner vorzustellen. Diese werde ich dann an einem Beispiel aus der Werbung illustrieren.

Kreativität


Der Begriff kommt aus dem Lateinischen „Creare“ – Erschaffen, Erzeugen, Gestalten. Der Psychologe Holm-Hadulla sieht zudem noch eine Nähe zum Begriff „Cresecere“ – werden, gedeihen, wachsen lassen.
Kreativität ist also auf den ersten Blick etwas, was irgendwie geschaffen wird und eine Phase des Gedeihens voraussetzt.
Über die Voraussetzungen für Kreativität gibt es einen weitestgehenden Konsens, der sich durch das Akronym FASZINATION auf den Punkt bringen lässt:
Flexibilität – assoziatives Denken – Selbstvertrauen – Zielorientierung – Intelligenz – Nonkonformismus – Authentizität – Transzendenz – Interesse.

Für meine Überlegungen liegt der Schwerpunkt nun auf den Denkprozessen, also assoziatives Denken und Flexibilität. Damit ist ganz allgemein die Fähigkeit gemeint, neue Informationen mit bekannten zu vergleichen und zu verknüpfen und offen für neue Erfahrungen zu sein, also neue oder unerwartete Gedankenverbindungen überhaupt zuzulassen.
Der kreative Prozess als solcher wird in fünf Phasen unterschieden: Vorbereitung – Inkubation – Illumination – Realisierung – Verifikation.
Auch hier sollen zwei Begriffe herausgehoben und fokussiert werden: nämlich die der Inkubation und Illumination. Die Inkubation deutete sich bereits zu Anfang im „Gedeihen“ an, also das aktive Assoziieren. Illumination ist die sprichwörtliche Erleuchtung, die neue Erkenntnis. Vollmer schreibt dazu: Als Wurzel der Kreativität sähe Robinson die Imagination. Sie sei die Fähigkeit, etwas zu erkennen, das noch nicht bewusst ist. An anderer Stelle zitiert Vollmer Kant: dieser definiere „Einbildungskraft als das Vermögen, einen Gegenstand auch ohne dessen Gegenwart in der Anschauung vorzustellen.
Kreativität ist demnach die Fähigkeit, eine Vorstellung von etwas bewusst zu machen, das vorher noch nicht da war. Sehr anschaulich ist in diesem Zusammenhang ein Ausspruch Michelangelos, der gesagt haben soll, die Skulptur befände sich bereits im Stein, er müsse nur noch das Überflüssige entfernen. Selbst in der Beschreibung dieser Vorgänge bewege ich mich sprachlich bereits in Bildvergleichen.

Um diese Fähigkeit zur Vorstellung und Bewusstmachung weiter zu untersuchen, gehe ich nun auf die Ebene des Denkprozesses, und zwar in der Unterscheidung von konvergentem und divergentem Denken nach Guilford.
Konvergentes Denken beschreibt kurz und knapp die rational-analytische, zielgerichtete lösungsorientierte Denkrichtung, salopp gesagt: straight ahead, stur geradeaus. Im Gegensatz dazu ist divergentes Denken breit angelegt und berücksichtigt Aspekte wie Problemsensitivität – Ideenflüssigkeit – Flexibilität – Originalität und Elaboration. Konvergentes Denken ist somit analytisch und selektiv. Divergentes Denken scheint auf den ersten Blick ziellos zu sein, eröffnet aber einen Denkraum, der eine Auswahl an Gedanken, Ideen oder Vorstellungen beinhaltet. Bildhaft ausgedrückt ist konvergentes Denken das Denken auf der Autobahn und divergentes Denken ein mit der Machete freigeschlagener Trampelpfad.
Kreativität ist nur dann Kreativität, wenn am Ende ein brauchbarer Output dabei herauskommt: Eine Idee oder eine Erkenntnis, die mir bei der Lösung eines Problems hilft. Daraus lässt sich ableiten, dass erst in einem Mix aus divergentem und konvergentem Denken so ein Output entstehen kann. Kreativität wäre also eine Denkschleife aus abwechselnden Phasen des Sammelns und Selektierens.

Gehen wir noch einen Schritt weiter auf die neuronale Ebene. Lehmann beschreibt kreative Denkprozesse als Oszillieren zwischen Flow-Zuständen und Muße, also cerebraler Entspannung. Die Entspannung wäre demnach der Zustand des Inkubierens. Also unbewusstes Gedeihen, was sich wieder in der Metapher des Ausbrütens verbildlichen lässt. Der Flow ist maximale Fokussierung bei gleichzeitiger Ausblendung aller anderen Faktoren wie Zeit, Raum, der eigene Körper und dessen Befindlichkeiten. Weiterhin stellt Lehmann heraus, dass der Neurotransmitter Dopamin unter anderem dafür verantwortlich ist, bestimmte Areale im Gehirn zu aktivieren oder deaktivieren und damit bestimmte neuronale Verbindungen zu priorisieren oder eben nicht.
Dopamin wird sowohl im Mittelhirn, und zwar dort in der Substantia Nigra, als auch in der Nebennierenrinde gebildet, wirkt primär neuronal erregend und steuert Antrieb und Motivation, aber auch Bewegungen innerhalb der Basalganglienschleife. Patho-neurologisch spielt Dopamin deswegen eine Rolle bei der Parkinson-Erkrankung mit einem Dopaminmangel und bei einem Zuviel im Zusammenhang mit Schizophrenie. Dies erklärt die Nähe zum Themenfeld Genie und Wahnsinn, was aber eine andere Geschichte ist, wie im Falle des Mathematikers John Nash.
Nun können wir nicht willentlich den Ausstoß von Dopamin ankurbeln oder unterdrücken, er steht aber trotzdem in Zusammenhang mit dem limbischen System im Temporallappen hinter den Ohren, welches für unsere Emotionen zuständig ist. Diese Strukturen sind im okzipitalen Bereich (etwas weiter hinten oben) mit den Spracharealen (Broca und Wernicke) verschaltet. Überdies findet auch Erinnern und Gedächtnis in temporalen Strukturen statt, die wiederum eng an visuelle kortikale Strukturen gebunden sind. Darauf verweist bereits Francis Crick in seiner Publikation „Was die Seele wirklich ist“ Über visuelles Bewusstsein. Auch das scheint mir eine wichtige Spur zu sein, die die Argumentation für bildliches Denken stützt.
Kreativität ist in der Sammelphase also ein dopaminabhängiges Erschließen neuer oder wenig genutzter Nervenverbindungen und Verknüpfen von gespeicherten Daten. Diese wiederum haben sich aus Erfahrung und Vorstellung durch Erinnerungs- und Gedächtnisleistungen gebildet.

Zu Beginn hatten wir die kreativen Phasen Inkubation und Illumination fokussiert. Das Verlassen ausgetretener Pfade scheint zu diesem Zeitpunkt eher der Inkubation zuzuordnen zu sein, die mit der Illumination, der Bewusstmachung bereits zu einigermaßen gangbaren Fußwegen geworden sind.
Und so stellt sich Vollmer in ihrem Buch über Kreativität auch zu Recht die Frage: Inwiefern vorsprachliches und bildhaftes Denken im Unterschied zu sprachlichem Denken die Ideenfindung beeinflusst.
Erinnern wir uns an die Zitate von Robinsons und Kant: die Kernbegriffe sind Imagination und Einbildungskraft. Vollmer zieht hier die sprachliche Verbindung zum lateinischen Ursprung „imaginatio“ und dem reflexiven „sich ein Bild machen“.
Aber ganz offensichtlich unterscheidet sie zwischen unbewusstem Bilddenken und bewusstem Sprachdenken als voneinander getrennte Systeme und ich frage mich, ob das Sinn macht.

Und damit wäre ich beim zweiten Teil, der Metapherntheorie nach Lakoff und Johnson.

Metapherntheorie


Die Metapher als rhetorisches Stilmittel löst keine große Aufregung aus. Man kennt sie, man nutzt sie und gut ist. Deutlich aufregender ist dagegen das Konzept von Lakoff und Johnson, die die Metapher zum zentralen Denkprozess erklären. Dabei formulieren sie folgende Grundannahme: „Unser alltägliches Konzeptsystem, nachdem wir sowohl denken, als auch handeln, ist im Kern und grundsätzlich metaphorisch. Zitatende. Was heißt jetzt aber Konzept? Ich verstehe den Begriff Konzept als eine Menge x an zusammengehörigen Daten hinter einem sprachlich codierten Begriff, die aus Erfahrung entstanden sind und die uns in der Welt einordnen und sinnvoll verorten.

Weiterhin definiert Lakoff den Begriff Metapher wie folgt: „Das Wesen der Metapher besteht darin, daß wir durch sie eine Sache oder einen Vorgang in Begriffen einer anderen Sache bezw. eines Vorgang verstehen und erfahren können.“ Bei dieser Aussage erinnere ich mich spontan an meinen Politikunterricht in der Mittelstufe, in der der Begriff „Erklären“ dadurch definiert wurde, dass eine unbekannte Sache mit einer bekannten verglichen wird. Mit anderen Worten: mittels Metaphern erklären wir uns die Welt.
Bei der Metapher gibt es jedoch zwei Seiten der Medaille: bei der Verwendung einer Metapher liegt der Fokus auf einem bestimmten Aspekt innerhalb eines Konzeptes und lenkt von anderen Aspekten ab. Die Metapher beleuchtet und verschleiert zugleich.
Hier zeigt sich eine erste Verbindung zur Kreativität: Ich greife erneut auf Vollmer zurück: „Sowohl Baudelaire als auch Adorno stellen dagegen den Rätselcharakter kreativer Werke heraus, die etwas sichtbar machen und zugleich verstecken. Mit seiner Überlegung, dass Kunst als Versuch, neue Ordnungen zu erstellen, zu verstehen ist, knüpft Arnheim an dieser Argumentation an.“

Lakoff unterscheidet vier Metaphern-Arten: Zuerst die Struktur Metapher, die darin besteht, dass das Konzept X durch Konzept Y metaphorisch strukturiert wird. Zweitens die Orientierungsmetapher: diese ist abhängig von physischen und kulturellen Erfahrungen und bezieht sich auf die Verortung im Raum. Die dritte Metaphernstruktur ist die ontologische Metapher, sie steht für Sichtweisen von Ereignissen, Aktivitäten aber auch Emotionen oder Ideen. Die letzte Unterscheidung ist die Gefäß-Metapher: hier geht es primär um Land und Territorien, also Räume als Grenze und die Blickfelder darauf. Das Land selber wird metaphorisch als Gefäß verwirklicht, in dem man sich entweder befinden kann oder zu dem man sich in irgendeiner Position befindet, abhängig eben vom Blickwinkel auf dieses spezielle Land. Darüber hinaus kann ich durch die Metapher personalisieren oder metonymisieren, also Eigenschaften übertragen. Ich kann sagen, „das Buch bei Dussmann hat mich so freundlich angelächelt, da konnte ich nicht widerstehen“ oder „der Goethe hat mich heute aber geärgert“ und es ist klar, was damit gemeint ist.

Innerhalb der Metapher findet eine Bewegung von der Ausgangsdomäne zur Zieldomäne statt. Um diese Bewegung vollziehen zu können, dass heißt, konkret, die Aspekte eines Konzeptes auszuwählen, die ich für die Metapher benötige, muss ich aber bereits eine Vorstellung davon haben, auf welche Aspekte ich den Fokus legen will, worauf ich die Aufmerksamkeit lenken will.
Dieser Prozess scheint sich innerhalb einer Schleife zu vollziehen, die sich gut mit der Basalganglienschleife vergleichen lässt, mittels derer Bewegung im Gehirn geplant und ausgelöst wird. Das wird mit folgendem Beispiel gut illustriert: Ich sehe eine Tasse mit Kaffee und möchte den Kaffee trinken. Diese Idee wird vom Frontallappen via Basalganglienschleife zum Kleinhirn geschickt, wo die Stellung meines Körpers im Raum und zur Tasse überprüft wird, von dort geht es zurück zum Frontallappen, guckt unterwegs im limbischen System, wie lecker der Kaffee ist und wie durstig ich bin und nach einigem Hin und Her greife ich dann endlich nach der Tasse, führe sie zum Mund und trinke. Wobei das Hin und Her extrem schnell und unbewusst passiert.


Genau dieser Vorgang muss sich auch bei der Bildung der Metapher vollziehen, nur dass hier Aspekte einer Information, Aufmerksamkeit, Kontext und Situation sowie Kommunikationspartner die entscheidenden Variablen sind.

Lakoff führt aus, dass die Metapher unentbehrlich für die wissenschaftliche Innovation sei. Einerseits als Forschungsobjekt, um Sprache und Denken zu verstehen, also das, was die kognitive Linguistik untersucht. Aber auch als Denkstrategie und Prozess, wie ich mit wissenschaftlichen Problemen umgehe, um Erkenntnisse zu gewinnen und Lösungen zu finden.
Um den Prozess der Metaphernbildung besser zu verstehen, komme ich nun zum Conceptual Blending nach Fauconnier und Turner.
Blending ist ein kognitiver Prozess, der in der Auswahl und Anordnung von Konzeptelementen besteht, die in neue Bedeutungskonzepte überführt werden und die von einer gemeinsamen Kultur und Sprachgemeinschaft verstanden werden können. In der Rekonstruktion dieser Prozesse besteht eine Möglichkeit, sprachliche Phänomene zu analysieren und diese für wissenschaftliche Fragen nutzbar zu machen.
Die Fähigkeit des Blending setzt Erfahrung und Wissen über diese Erfahrung voraus. Erfahrung und Wissen werden in Sprache codiert und das Sprachsystem selber besteht wiederum aus Syntax und Semantik. Conceptual Blending verknüpft nun semantische Teilmengen zu einer neuen Vorstellung: der Metapher.
Innerhalb des Spracherwerbs hat Michael Tomasello die Verbinsel-Konstruktion als Grundlage für sprachliche Realisation herausgearbeitet. Das Verb übernimmt eine Kernstellung, welche durch variable Mitspieler ergänzt wird. Als Vergleich bietet sich hier die Silbenstruktur an, mit ihrem Kern, Kopf und Reim. Salopp ausgedrückt lässt sich das so auf den Punkt bringen: Was der Silbe ihr Vokal, ist der Metapher ihr Verb. Um eine Metapher zu verstehen, muss man demnach das Verb in seiner Beziehung zu den Mitspielern untersuchen.

„Hinter dem Deich, aber nicht hinter dem Mond“


Ich möchte dies nun an einem Beispiel aus der Werbung illustrieren. Die Werbung erschien mir dabei aus zwei Gründen sinnvoll. Erstens, weil Werbetexte Funktionstexte sind. Ihre Funktion besteht darin, zu verkaufen. Zuerst wird beim Rezipienten ein Bedürfnis geweckt und darauf aufbauend einen Kaufwunsch auszulösen, um das Bedürfnis zu befriedigen. Kurz AIDA: Attention – Interest – Desire – Action. Mehr muss Werbung nicht leisten und genau das ist aber auch die Herausforderung.

Weiterhin wird Werbung mit kreativem Tun assoziiert. Werbetexter und Graphikdesigner werden als „Kreative“ bezeichnet. Damit ist wiederum eine Erwartungshaltung an das Werbe-Medium verbunden. Der Rezipient erwartet eine kreative, überraschende und innovative Lösung der Kauf-MICH-und-nicht-die-anderen-Problematik, die diese gleichzeitig verschleiert. Es scheint also naheliegend, das Werbung und Werbende offensichtlich in besonderem Maße mit Metaphern und damit Conceptual Blending operieren (müssen).
Werbung besteht für mich aus drei Ebenen: einer ästhetischen Ebene, einer funktionalen und einer sprachpragmatische Ebene. All diese Ebenen vereinen sich im kreativen Output.

Das Beispiel entstammt der Imagebroschüre der Druckerei Clausen& Bosse in Leck, die zur CPI Gruppe gehörend eine der sechs größten Druckereien in Europa ist. Kurz zur Funktion: eine Imagebroschüre richtet sich an den Kunden, der sowohl Endkunde, als auch Business-to-Business sein kann. Endkunde ist zum Beispiel Onkel Heiner, der die Einladungen zu seinem 50sten Geburtstag drucken lässt. Business-to-Business sind Firmen, die wiederum eigene Produkte für Endkunden produzieren, in diesem Fall also Verlage, an die sich diese Broschüre auch wendet. Bei der Imagebroschüre geht es, wie der Name bereits vermuten lässt, mehr um die Darstellung des Unternehmens, seiner Corporate Identity und der kommunizierten Unternehmensphilosophie und weniger um das eigentliche Produkt, das Drucken von Druckerzeugnissen.


Die Frage, die eine Imagebroschüre beantwortet, ist diese: Wie sehen wir uns als Unternehmen selbst und wie möchten wir gesehen, vom Kunden wahrgenommen werden?

Die Seite der Imagebroschüre, auf die ich mich beziehe, zeigt im Hintergrund das Foto eines Schafes auf einer Wiese, welches in die Kamera schaut. Auf der davorliegenden Ebene befindet sich ein weiß unterlegter Textblock, darüber eine frei gesetzte Überschrift.
Daraus wird bereits deutlich, dass es eine Bild- und eine Textebene gibt, die sich in ihren Aussagen ergänzen, verstärken oder auch widersprechen können. Text und Bild sind damit immer zusammengehörige Aspekte, die die Werbeaussage transportieren.
Die frei gesetzte Überschrift besteht aus dem Wort „grotesk“. Das können wir recht zügig als ästhetische Spielerei einordnen. „Grotesk“ wird hier einmal als Homonym verwendet, um a) einen Bezug zu Bild und Text herzustellen, der auf der Erzählebene eine Kommentarfunktion darstellt, wobei offenbleibt, wer kommentiert und b) als Referenz auf die Schriftart „Grotesk“, die eine serifenlose Schrift aus der Antiqua benennt. ( Der Vortrag in der Leseversion ist zum Beispiel mit der Times New Roman geschrieben, eine ebenfalls aus der Antiqua abgeleitete serifen-betonten Schrift. Serifen sind Querlinien – total wissenschaftlich ausgedrückt: die kleinen Nupsis – an den Enden der Buchstaben.) Mit der Verwendung des Schriftnamens wird also der Produktbezug in den Vordergrund gestellt, da Bücher aus Schriften gesetzt werden und die Art der Schrift einen wesentlichen Beitrag zum ästhetischen Gesamterscheinen, der Lesbarkeit und der Referenz auf den Leseinhalt hat.
Beide Bedeutungen zusammen erfüllen die Funktion der „Aufmerksamkeit“, die dann zum Text gelenkt wird.
Der Textblock besteht aus einer Überschrift in einem vom Textblock abgesetzten eigenen Block. Darunter befindet sich der mittig im Bild ausgerichtete schmale Textblock. Im Verbund mit dem sogenannten Teaser „Grotesk“ ergibt sich ein auf dem Kopf stehendes Ausrufungszeichen, welches inhaltlich wieder zum Kommentar „grotesk“ in Beziehung gesetzt werden kann.
Ich möchte mich jedoch hier auf die Überschrift des Fließtextes konzentrieren. Diese lautet: „Hinter dem Deich, aber nicht hinter dem Mond“.
Die drei Fragen, die sich stellen, sind diese: Ist das kreativ? Wie und wo wird hier mit Metaphern und Conceptual Blending gearbeitet und welche kreativen Prozesse hat der Texter durchlaufen, um darauf zu kommen?

Die Tatsache, dass der Kunde, also die Druckerei, diese Überschrift freigegeben hat, ist bereits der Beweis, dass zumindest das Unternehmen hier einen kreativen Akt mit Überraschungseffekt erkennt, der mit der Selbstdarstellung des Unternehmens im Einklang steht.
Aber nun zur Metapher: Ausgangspunkt ist die bereits etablierte Metapher „Hinter dem Mond“ die einen Seins-Zustand beschreibt, den man als uninformiert, dumm, „hinterwäldlerisch“, ahnungslos, nicht auf dem neuesten Stand sein, etwas verpassen, nicht mitbekommen, beschreiben kann. Der Seins-Zustand wird durch die Position und Entfernung zu einem Gegenpol, in dem Fall der Erde zum Mond beschrieben. Damit werden der Erde eben jene Attribute zugesprochen, die für die Position hinter dem Mond negativiert werden. Es sind demnach zwei entgegengesetzte Positionen und Pole, an denen sich zwei Sprecher befinden. Der Verweis auf die geografischen Orte Erde und Mond ist eine rhetorische Übertreibung, um das Ausmaß des Nichtwissens zu illustrieren, und in sich schon wieder eine Metapher, da niemand real hinter oder auf dem Mond leben kann.
Die Überschrift beginnt jedoch mit der Aussage „Hinter dem Deich“… die auf etwas verweist, was dort ist oder passiert. Auch hier findet eine Verortung mit den Positionen vor und hinter statt, wobei an dieser Stelle nicht klar wird, wo sich Sender und Adressat befinden, ob sie sich auf der gleichen oder gegenteiligen Position befinden. Narratologisch findet ein Spannungsaufbau statt, da es offensichtlich hinter dem Deich etwas gibt, was entdeckt werden kann, was sich dem Leser aber noch nicht zeigt. Mit dem zweiten Teil der Überschrift wird die Spannung aufgelöst: aber nicht hinter dem Mond. Die Dekodierung erfolgt mittels des „aber“, als Konjunktion, die auf die Schnittmenge der Aspekte verweist, die hier gemischt werden. Der Seins-Zustand hinter dem Mond wird auf den Seins-Zustand hinter dem Deich übertragen und negiert. Dies funktioniert jedoch nur über bereits etablierte Assoziationen und Wissen über die geografischen Lage und spezifische Eigenschaften, die der dort ansässigen Bevölkerung zugeschrieben werden. Das Unternehmen ist in Leck, einem sehr kleinen Ort im Norden Deutschlands, nahe der dänischen Grenze, mit anderen Worten: auf dem platten Land. Dieser Teil des Landes lebt primär vom Tourismus und Landwirtschaft. Industriezentren sind weit entfernt und Lieferwege damit lang, was man auch auf die Kommunikationswege übertragen könnte. Den dort lebenden Menschen wird ein norddeutsches Gemüt zugeschrieben, was sich stereotyp durch Wortkargheit, Kauzigkeit, Ehrlichkeit und Direktheit, aber auch Distanz und Emotionslosigkeit beschreiben lässt. Auch Entfernungen werden „norddeutsch“ wahrgenommen, von einem international verbundenen Europa im Sinne eines „die Welt ist ein Dorf“ ist der Norddeutsche meilenweit entfernt, da er eine Reise von Friedrichstadt nach Husum, einer Strecke von fünfzehn Kilometern, bereits als Weltreise und große Fahrt einordnet. Das passt nun so gar nicht zu einem international operierenden Unternehmen, welches sich weltoffen, kreativ und künstlerisch, kommunikationsfreudig und kundenorientiert versteht. Diese Stereotype werden vom Unternehmen humorvoll aufgegriffen, um sich selbst dazu im Gegensatz zu verorten und auch die Metapher ins Gegenteil zu verkehren. Gerade die geografische Lage am Rande, geschützt durch den Deich führt zu einem besonders guten und ablenkungsfreien Überblick. Humor zu zeigen bedeutet für ein Unternehmen ein gewisses Maß an Mut, welches hier für Selbstvertrauen und Kompetenz steht. Nur wer seinen Wert kennt, kann sich diesen Humor leisten und damit Souveränität ausdrücken.

Obwohl in der Überschrift die Verben elliptisch herausgekürzt wurden, sind sie die zentrale Schnittstelle zum Verständnis: Das Sein im Raum; und zwar in Relation von „wo bin ich“ und „wo bist Du“. Den Orten werden dabei bestimmte positive und negative Eigenschaften zugeschrieben, die sich auf die dort seiende Person übertragen. Erst durch die Übertragung von Aspekten der Metapher „Hinter dem Mond“ wird „Hinter dem Deich“ selbst zur Metapher, und zwar in diesem Kontext.

Das kreative Moment ist dieser Übertragungsaspekt auf die geografische Verortung und die analoge Positionierung „hinter dem Deich“, denn vom Land aus gesehen, liegen Unternehmen und Ort ja vor dem Deich. Kehrt man die Blickrichtung um, und blickt von der Seeseite aus aufs Land, dann befindet sich das Unternehmen hinter dem Deich, betrachtet sich selbst aus einer gedachten Distanz und nimmt so zwei Positionen ein. Eine geografische, reale Position und eine gedachte, die zu der Erkenntnis führt, dass man hinter dem Deich eben doch den besseren Überblick hat, was die normative Einschätzung des Ausgangsblickes von der, wie auch immer definierten – Mitte zur Landesgrenze als bessere oder qualitativ höher bewertete kritisiert.
Der kreative Output besteht in der Bildung einer Metapher durch eine andere, die ein Stereotyp aufgreift und dieses negiert. Narratologisch spricht das Unternehmen (Metonymie) zum Leser und beweist Souveränität durch Humor, in dem es sich selbst zur Metapher „hinterm Mond“ in Beziehung setzt.

Fazit


Ich habe versucht zu zeigen, dass Kreativität die Ausprägung der Fähigkeit ist, konvergentes und divergentes Denken lösungsorientiert zu kombinieren. Das dabei auf Conceptual Blending als Grundlage metaphorischen Denkens zurückgegriffen wird und das Bilddenken nicht von der sprachlichen Ebene zu trennen ist.
Jede Benutzung von Metaphern stellt insofern bereits einen kreativen Akt dar. Was wir bewusst als kreativ empfinden, ist die subjektiv wahrgenommene Ausprägung der Originalität, d.h. die Unerwartbarkeit oder der situations- und kontextbedingte Überraschungseffekt ebendieser.
In einem Ausblick führt das weiter zu der Frage, wie Kreativität in der Wissenschaft genutzt werden kann. Denken wir an „Design Thinking“ oder die schlichte Aufforderung von Dozenten: seien Sie kreativ bei der Ausarbeitung der Präsentation. In diesen Überlegungen steckt die Frage, wie wir mit Sprache in der Wissenschaft umgehen. Wie definieren wir wissenschaftliche Sprache? Denn wenn wir jedes sprachkreative Potential und damit auch Offenheit und Mehrdeutigkeit in der Sprache als unwissenschaftlich diskreditieren, dann reduzieren wir Sprache auf Zeichen, die nichts mehr mit unserer Lebenswirklichkeit zu tun haben.
Jeder Weg beginnt mit einem ersten Schritt. Denken wir auf neuen Wegen. Denken wir kreativ.


Literatur

Fauconnier, Gilles; Turner, Mark (2002): The way we think. Conceptual Blending and the mind’s hidden complexities. Basic Books. New York.
Holm-Hadulla, Rainer (2007): Kreativität. Konzept und Lebensstil. Vandenhoeck & Ruprecht. Göttingen.
Jacob, Nora-Corina (2016): Kreativität und Innovation. Springer. Wiesbaden.
Lacoff, George (1998): Leben in Metaphern Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern. Carl Auer. Heidelberg.
Lehmann, Konrad (2018): Das schöpferische Gehirn. Springer. Berlin. https://doi.org/10.1007/978-3-662-54662-8_6 (e-book)
Nöth, Winfried (2000):In: Handbuch der Semiotik. 2. vollständig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Metzler. Stuttgart.
Vollmer, Barbara (2020): Kreativität – Handeln in Ungewissheit. Springer. Wiesbaden.

Autoren Schreiben Vortrag | Essay

Der Autor in Zeiten der Cólera

Der Autor in Zeiten der Cólera
Die Frage nach der Verantwortung des Autors und der Literatur

Wie die letzten Jahre auch war ich als Fachbesucher für die Leipziger Buchmesse akkreditiert, die eine ganz besondere Atmosphäre vermittelt. Dieses Jahr war ich nicht dort. Aufgrund der Pandemie musste die Buchmesse abgesagt werden, ebenso Lesungen, Autorenfort- und Weiterbildungen, Literaturcamps – also Literatur- und Kulturveranstaltungen jeglicher Art.

Die Literaturbranche hat reagiert und kreative Alternativen und Kompensationsstrategien entwickelt, die vor allem über Social Media Kanäle transportiert wurden und einen intensiven Austausch ermöglichten. Dabei ging es auch um die finanzielle Situation von AutorInnen, von Künstlern und der Frage, ob Kultur, ob Kunst und damit auch Literatur systemrelevant sei.

In diesem Zusammenhang möchte ich ein Plädoyer für Literatur als systemrelevantes Kulturgut halten. Und ich möchte dies mit der Frage nach der Verantwortung des Autors, der Autorin untersuchen und in Beziehung zum Werk setzen.

Der Vortrag gliedert sich in drei Teile. Im ersten Abschnitt werde ich den Begriff Autor im literaturtheoretischen Diskurs vorstellen. Damit schaffe ich eine Voraussetzung dafür, im zweiten Abschnitt zu klären, was mit Verantwortung bezogen auf Literatur und den Autor gemeint sein kann. Dabei werde ich mich besonders auf Jean Paul Sartre und seine Überlegungen in „Was ist Literatur“ beziehen.

Im dritten Abschnitt möchte ich anhand literaturphilosophischer Überlegungen, gespeist aus den Arbeiten Martha Nussbaums zeigen, dass Literatur als Kulturgut aus sich heraus bereits eine Verantwortung darstellt, die sich in unterschiedlichen Qualitäten expliziert.

AutorIn … welche AutorIn?

Kein Text ohne Autor. Ich beginne also mit der Frage, was ist ein Autor?
Roland Barthes poststrukturalistische Proklamation des „Tod des Autors“ wurde durch Fotis Jannidis mit „Die Rückkehr des Autors“ in einem neuen Diskurs wiederbelebt. Allerdings ist auch das schon wieder 21 Jahre her. Kernproblematik ist dabei der scheinbar fehlende common ground von Hermeneutik und Diskursanalyse, der die Geister scheidet.

Die Frage nach der Autorschaft bleibt aktuell. Gerade durch die Erweiterung von Betätigungsfeldern im Bereich Medien und so ist es nicht verwunderlich, dass eine neue Generation von Literaturwissenschaftlern und Literaturtheoretikern die ganze Sache kreativ, frisch und ohne akademische Altlasten angeht, wie es der Band „Literaturtheorie nach 2001“ aus dem Matthes&Seitz Verlag zeigt.

Trotzdem müssen wir uns für die Frage nach der Verantwortung zuvor auf eine grobe Verortung des Begriffs Autor einigen, wenngleich diese nur zu Hilfszwecken dienlich sein kann.

Die Rolle des Autors definiert sich über die Funktion seines Werkes. Innerhalb der mündlichen Überlieferung gab es gar keinen Autor, mit der Entdeckung des Menschen in seiner emotionalen Verfasstheit in der Renaissance kam dem Autor ein Bildungsauftrag zu, Werther berührte, Frau Bovarie empörte, „Das obszöne Werk“ verstörte und Anna, Du Geliebte meiner 27 Sinne, würdest Du auf 140 Zeichen reduziert Autorenrechte besitzen?

Wenn „Autor sein“ eine funktionsgebundene Rolle ist, dann muss die Frage also lauten: Wer ist der Autor? Der Autor ist eine reale Person mit einer realen Biografie. Der Autor ist ein Produzent, der sowohl in eigenem, als auch fremden Auftrag Text produziert. Innerhalb seines Schaffensprozesses muss der Autor nach Harold Bloom seine schreibsozilisatorische Herkunft überwinden, um zur eigenen Sprache zu finden. Er ist also vorläufiges Endglied eines literarischen Stammbaums, der – wenn man so will – bis in die Antike zurückreicht.

Er ist ein fiktiver Autor, ein Bild, welches der Leser konstruiert, welches der Autor als Selbstinszenierung konstruiert. Der Autor ist real und künstlich. Er ist der Autor, der am Tisch sitzt und mit den Fingern auf Tasten tippt, um Sätze auf einem Bildschirm entstehen zu lassen. Er ist das Photo auf der Rückseite des Buches und er ist der Typ auf dem Sofa mit Elke Heidenreich. Das bedeutet, dass Autor sein eine Form ist, die unterschiedliche Bedeutungen haben kann. Und das bedeutet auch, dass die Sprache des Werkes, Haltungen und Meinungen nicht zwangsläufig identisch mit Haltungen und Meinungen und der Sprache des Privatmenschen sind. Er ist Erzähler und erzählendes Subjekt im Werk, so er denn so schreibt. Kann er sich aus seiner Zeit herausschälen, das heißt, ist er frei zu schreiben, was und wie es ihm gefällt oder bewegt er sich innerhalb eines literarischen Resonanzfeldes, welches er bestätigt, indem er es negiert?

Ist der Autor ein anderer Autor, als die AutorIn. Das heißt, schreiben beide in derselben literarischen Sprache, bewegen sie sich im selben Literaturresonanzfeld? Können sie das überhaupt oder muss die AutoIn bereits einen Assimilationsprozess durchmachen, um schreiben zu können, um gelesen zu werden? Kann sie frei schreiben und woher weiß sie, dass sie frei ist in ihrem Schreiben. Die Frage nach dem Autor wirft mehr neue Fragen auf, als dass sie Antworten bereit hält.

Einigen wir uns für die Zeit dieses Vortrages auf folgende Position:

Wir haben eine AutoIn, die nach einem erfolgreichen Prozess der eigenen Sprachfindung ein Werk produziert, in dem sie reale und/oder fiktionale Geschichten erzählt, die wiederum auf einer Metaebene Werte, Normen, Haltungen und Meinungen transportieren. Diese können bewusst und intentional sein, aber auch unbewusst in den Text eingeschrieben, in seine Sprache eingeprägt sein. Die Unbewussten sind der realen Person zuzuordnen, da sie keine Kontrolle über diese hat. Die im Werk verhandelten Konflikte und Prozesse, die Werte und Haltungen bedingen, spiegeln und auslösen, müssen nicht zwangsläufig der realen Person als Privatmensch zugeordnet werden, da sie intentional und bewusst sind und somit der Kontrolle des Autors unterliegen.

Die Tatsache, dass jedes Werk, jede Geschichte eine Metaebene hat, in Form von Diskurs und Histoire und auf der Schreibebene ganz praktisch in Form von Plot, Handlung, Motiv und Konflikt ausgedrückt, gibt dem Autor ein Machtinstrument in die Hand. Macht über den Leser.

Und dies führt zum zweiten Abschnitt und der Frage der Verantwortung.

Macht bedeutet Verantwortung

Was macht der Autor nun mit dieser Macht? Die erste Pflicht und Verantwortung der AutorIn, die sich aus der Macht über den Leser heraus ergibt, so scheint mir, ist die, die Zeit ihrer Leser nicht zu verschwenden.

Das macht die Frage der Verantwortung komplizierter. Denn nun hängt das Gelingen der Einhaltung der Verantwortung des Autors vom Leser ab. Der Autor schreibt jedoch für einen ideellen und damit fiktiven Leser, dessen Leseerwartung mit dem Werk korreliert. In diesem Kontext lässt sich Verantwortung als die Treue des Autors zu seinem Werk, resp. seiner Epoche, seines Genres begreifen, wie es Foucault und andere erarbeitet haben.

Man kann die AutorIn als einen semiotisch geladenen Code verstehen, der fortlaufend mit dem Werk bestätigt wird. Als Leser muss ich mich auf den Code verlassen, um den Text zu verstehen. Codebrüche können neue Diskurse anstoßen, auf alte verweisen, sie können angenommen werden oder unterdrückt werden, wo sie Tabus brechen.
Das Tabu ist übrigens eine Schnittstelle, an der George Bataille ansetzt, der von der Literatur fordert, das Tabu zu brechen, wo die Gesellschaft in diesem gefangen ist. Literatur befreit somit von sozialen Praxen der Unterdrückung.

Freiheit und Befreiung finden wir als zentrales Motiv bei Sartre in „Was ist Literatur“.
Und die Literatur, die ihn befreit, ist eine abstrakte Funktion und ein apriorisches Vermögen der Menschenatur, sie ist die Bewegung, durch die der Mensch sich in jedem Augenblick von der Geschichte freimacht; mit einen Wort, es ist die Ausübung der Freiheit.“

J.P. Sartre

Sartre bezeichnet das „Sujet der Literatur“ als den Menschen in seiner Welt. Daraus ergibt sich für ihn Aufgabe und Verantwortung: Die AutorIn schreibt für den Menschen über den Menschen und würde damit, so Sartre, im Gelingen die Antinomie zwischen lyrischer Subjektivität und objektivem Zeugnis überwinden.

Ich habe von Macht über den Leser gesprochen und genau diese Macht verortet Sartre im Vermögen des Textes seinen Leser zu berühren. Darin besteht die Verantwortung: im Bruch mit der Geschichte, in der Befreiung aus der Geschichte durch die Wahrheit. Den Wahrheitsanspruch lese ich aus Sartres Begriff der „totalen Literatur“, den Sartre aus einer Synthese aus „Tun, Haben und Sein“, aus „Negativität und Konstruktion“ in der Literatur ableitet.

Literatur soll wahr und berührend sein und damit befreiend. Schreiben ist gelebte Freiheit. An anderer Stelle sagt Satre, dass ein freier Autor nicht ohne freien Leser sein kann, da der ja erst den Text im Lesen befreit. Das scheint mir eine Frage nach der Sprache zu berühren. Der russische Strukturalist alter Schule Jurij Lotman spricht vom Autor, der dem Leser via Sprache sein eigenes Denken aufzwängt. Das kann aber nur gelingen, wenn die Sprache der AutorIn vom Leser übersetzt werden kann oder sie direkt genügend Gemeinsamkeiten aufweist.
Die von der AutorIn gewählte Sprache muss also passend zum Leser ausgewählt werden oder sich ihm gegenüber zumindest offen gestalten. Sie muss sich, im Falle des Tabubruches gegen eine Zensur behaupten, will die AutorIn nicht ihre physische und schreibende Freiheit aufs Spiel setzen. Oder aber, die AutorIn opfert die reale Person für die Freiheit der AutorIn, die Wahrheit schreiben zu dürfen und liefert sich damit dem politischen System aus, wo Freiheit keine echte Freiheit ist.

Daraus leite ich drei Ebenen der Verantwortung der AutorIn ab: eine sprachliche Ebene, eine inhaltlichen Ebene und eine Verantwortung sich selbst gegenüber, die zusammen erst die Verantwortung gegenüber dem Leser beantworten können.

Literatur und Gefühl

Das Verständnis darüber, wie wir mit Sprache umgehen, wie wir sie benutzen und mit ihr spielen führt zur ästhetischen Erfahrung – ihrer Poezität – von Sprache und Literatur, die sich in Form von Poetik und Rhetorik untersuchen lässt.

Um nun zu untersuchen, inwieweit Literatur systemrelevant sei, bieten sich zwei Ansätze an. Einmal der philosophische Ansatz mit Überlegungen von Martha Nussbaum zur Empathie und deren Rolle in der Literatur, um ein ethisches Selbstverständnis zu befördern, was Voraussetzung für ihr Modell des guten Lebens darstellt.
Der zweite Ansatz ist ein literaturpädagogischer, der sich organisch aus den philosophischen Überlegungen ableitet.

Ich beginne mit der Philosophie und den Überlegungen Martha Nussbaums.

Ethik als zentrales Moment der Konstitution einer Gesellschaft erfordert Haltungen, die die jeweiligen Bedürfnisse der Menschen innerhalb dieser Gesellschaft berücksichtigt. Diese Haltungen werden und wurden schon in der Antike in der Literatur verhandelt, in der von den Ängsten und Hoffnungen des Menschen erzählt wird. Literatur verhandelt Emotionen intra- und extradiegetisch. Der Leser liest also über Gefühle, erlebt Gefühle in der Geschichte und fühlt selbst durch die Geschichte.

Die Identifikation mit den Charakteren, Mitgefühl, Mitleiden, aber auch Ablehnung zwingen den Leser in eine aktive Rolle.

Er wird Teil der Geschichte und ebenso, wie der Autor als Richter über seine Figuren zeugt, wird der Leser zum Richter und positioniert sich über sein moralisches Verständnis. Das dies herausgefordert werden kann und muss, zeigt sich in jeder Epoche auf andere Art und Weise. Während der Naturalismus den Finger auf die Wunde der gesellschaftlichen Ordnung legt, verlegt der Surrealismus den Blick gänzlich in ein transzendentales Innere in der Auflösung konventioneller semantischer Strukturen in der Kunst. Ethik und darin eingebunden Moral sind also die entscheidenden Elemente, durch die Autor, Geschichte und Leser in einen Diskurs eintreten und durch sie verbunden sind.

Diesen Gedanken greift die Literaturpädagogik auf, wenn sie in ihren Zielen formuliert, dass Literatur einen Lebensbezug, ein Probe-Handeln beim Leser evozieren soll, in der der Leser in unterschiedlichen imaginären Rollen Haltungen und Entscheidungsmöglichkeiten erproben kann.
Auch die ästhetische Erfahrung findet so auf drei Ebenen statt: der sprachlichen Ebene mit einer gelungenen Poetik, einer inhaltlichen Ästhetik, die einen Lebensbezug zum Leser herstellt und einer emotionalen Ästhetik, in der die Literatur auf den Leser einwirkt und somit in ihm wirkt.

Die Aufgabe der AutorIn

Die Zeit des Lesers nicht zu verschwenden, das war mein erster Gedanke, als es um die Pflicht und die Verantwortung der AutorIn ging. Wenn es der AutorIn gelingt, ein Werk zu schaffen, welches seine Leser berührt, in dessen Sprache er sich wiederfindet, welches zu einer Haltung herausfordert, dann ist das Unterfangen geglückt. In den Worten von James Baldwin:

An Artist is a sort of emotional or spiritual historian. His role is to make you realize the doom and glory of knowing who you are and what your are.

James Baldwin

Und in diesem Herausfordern liegt ein Bildungsgedanke zugrunde, wie ihn Aristoteles in seiner Poetik formulierte, wie ihn der Humanismus neu interpretierte. Ein reflektorischer Prozess, aber auch eine Verantwortung als Erwartung an den Leser, sich zu bilden, sich dem Erfahrungsprozess Literatur hinzugeben, Haltung zu beziehen.

Und vor allem – sich als Mensch zu erfahren. Und das macht Literatur systemrelevant.


Der Vortrag wurde im Juni 2020 am Philosophischen Institut der Europa Universität Flensburg im Rahmen eines Seminars gehalten.

Literatur

Bataille, Georges (2011): Die Literatur und das Böse.
Ebd. (2017): Die innere Erfahrung. Matthes & Seitz. Berlin.
Bloom, Harold (1997): The Anxiety of Influence. A Theory of Poetry. Oxford University Press. Oxford. New York.
Lotman, Jurij (2015): Die Struktur des künstlerischen Textes. Suhrkamp. Frankfurt am Main.
Nussbaum, Martha (1990): Love’s Knowledge. Essays on Philosophy and Literature. Oxford University Press. Oxford. New York.
Ebd. (1995): Poetic Justice. The literary Imagination and Public Life. Bacon Press. Boston.
Sartre, Jean Paul (2018): Was ist Literatur? Rowohlt. Reinbeck. Hamburg
Zitat James Baldwin: https://www.brainpickings.org/2017/05/24/james-baldwin-life-magazine-1963/ (aufg. am 25.05.2020)

Schreiben Textperimente

Über Schreibräume

little edition

„Das Haus ist in besonderer Weise ein sinnliches Ding, das Haus ist sinnliches Haus“, schreibt Ute Guzzoni in Wohnen und Wandern.[1] Natürlich, ist mein erster Gedanke. Was sollte es sonst sein? Das Haus, der Raum ist eine Erweiterung meiner selbst, belebt und ausgedrückt durch die Dinge, mit denen ich den Raum fülle. Auch das schreibt Guzzoni an anderer Stelle. Da sind wir uns einig.

Ich möchte im Folgenden Guzzonis Referenz auf Marguerite Duras aufgreifen und ein paar Gedanken zu Schreibräumen entwickeln.

Guzzoni zitiert Marguerite Duras mit folgenden Worten, hier fragmentarisch, auf das Wesentliche beschränkt, wiedergegeben: „Frauen seien in den Raum inkrustiert […] nur eine Frau kann sich im Haus so wohl fühlen, kann vollständig mit ihm verwachsen sein […] Ich gehe nie durch das Haus – denke ich – ohne es anzuschauen. … es ist eine Art ekstatischer Blick, der Blick der Frau an sich auf das Haus, auf ihre Wohnstätte und auf die Dinge, die offensichtlich den Inhalt ihres Lebens ausmachen.“[2] Guzzoni interpretiert dies nun als „das Bild der Frau als Hüterin des Herdes“.[3] Das mag zu Teilen seine Berechtigung haben, ich denke allerdings, das hier und gerade in Bezug auf Duras viel zu kurz gegriffen wird.

Marguerite Duras schreibt. Und in dem ich es genauso sage, drücke ich das beherrschende Moment der Tätigkeit aus. Sie ist Autorin, Schriftstellerin, wie auch immer man das Label bezeichnen möchte. Sie schreibt. Das Schreiben als Seinsform, als Raum, um überhaupt überleben zu können, spielt bei Marguerite Duras die zentrale Rolle. Sie ist das Schreiben selbst. Natürlich lebt, wohnt sie physisch an einem Ort, Sa-Dec, Saigon, Paris, Trouville, Neauphle. Sie bewohnt Räume, die eine äußere Grenze bilden, die der innere Schreibraum der Duras nicht hat. Daran lässt sich vielleicht schon erahnen, welche opiate Wirkung das Schreiben hat. Rauschhaft, wie die Opiumhöhlen, in denen der Chinese in L’Amant sich dem väterlichen Raum entzieht, nebelhaft und in diesem Nebel den Raum verschleiernd, der vom inneren Raum nur ablenkt. Das Schreiben als Sucht, als Suche, als sicherer Hafen in einer äußeren, verstörenden, brutalen Welt.

Ich glaube, ihr Schreiben selbst war brutal, in seiner Hingabe an das Wort, in Duras rücksichtsloser Entschlossenheit, sich ihrem Schreiben hinzugeben. Zuviel Brutalität, wenn es innen wie außen so aussieht. In Schreiben nimmt Marguerite Duras Stellung zum äußeren Schreibraum

. „Was ich sagen kann, ist, daß die Einsamkeit von Neauphle von mir gemacht worden ist. Für mich. Und daß ich nur in diesem Haus allein bin. Um zu schreiben.“ [4]

Das Haus ist die Grenze gegen die Welt, erweiterter physischer Schreibraum, um dem physischen Schreibkörper einen Ort zu geben, wo er geschützt am Leben gehalten wird, um Worte zu erzeugen und diese Worte zu Sätzen zu reihen und zu Geschichten.

Der äußere Schreibraum ist ein funktionales Konstrukt, er ist an Bedingungen gebunden, die das Schreiben ermöglichen. Der äußere Schreibraum bedingt die Schreibhandlung, nicht den inneren Schreibraum.

„Mein Zimmer, das ist nicht ein Bett, weder hier, noch in Paris, noch in Trouville. Das ist ein bestimmtes Fenster, ein bestimmter Tisch, Gewohnheiten mit schwarzer Tinte, nicht aufzutreibenden Sorten schwarzer Tinte, das ist ein bestimmter Stuhl. Und bestimmte Gewohnheiten, die ich immer wiederfinde, wohin ich auch gehe, wo ich auch bin, selbst an Orten, wo ich nicht schreibe …“[5]

Der äußere Schreibraum ist nicht zwangsläufig an das Konzept Raum gebunden, sondern manifestiert sich in Dingen, die in Räumen sind. Der innere Schreibraum wird hier durch Gewohnheiten markiert, die auch dann existieren, wenn das Schreiben nicht als Handlung ausgeführt wird. Der innere Schreibraum ist immer da, nicht zwangsläufig immer zugänglich und ich glaube, dass das Schreiben immer stattfindet, unabhängig von einer beobachtbaren Tätigkeit. Das Schreiben ist immer da, so wie der innere Schreibraum immer da ist. Man kann sich dem nicht mehr verschließen oder verwehren. Man ist dem Schreiben ausgeliefert.

„[…] in Neauphle ist sie angeekelt vom Geruch der Hunderte von Rosen im Garten, übersättigt von ihren schweren Düften, und sie hat ein Verlangen: Schreiben, ständig. Immer nur das. Die ganze Zeit.“[6]

Könnte man die Third-Space Theory darauf anwenden? Da ist der äußere Schreibraum. Und der innere Schreibraum. Der Autor existiert in beiden und bildet im Schreiben selbst, in der Handlung einen Third Space, in dem er beide Räume zu einem neuen Raum verbindet. Dieser Third Space ist der Autor selbst im Schreiben. Der Schreibprozess als Handlung ist an den Körper gebunden. Hat das Konsequenzen für den Text, für den Leser? Gilt der Third Space auch für den Leser, wenn er äußere und innere Leseräume aufmacht? Treffen sich Autor und Leser in diesem Third Space ohne direkt und unmittelbar zu kommunizieren? Barthes sagt nein. Der Text braucht keinen Autoren. Nach Genette wäre der reale Autor identisch mit dem impliziten Autor, den der Leser sich denkt und in seinem Third Space kreiert. Es ist nicht mehr als eine Spur. Dieser Third Space … vielleicht eine Sackgasse, die nirgendwohin führt.

Im Schreiben selbst lösen sich die Grenzen der Räume auf, das Innen fließt auf dem Papier in das Außen. Das Schreiben wird bezeugbar. Das innere Schreiben ist eine sichere Sache, erst in der äußeren Manifestation wird es verletzlich, wenn es den schützenden Körper verlässt.

Wenn Marguerite Duras von einem ekstatischen Blick schreibt, dann denke ich nicht, dass sie dabei Assoziationen eines weiblichen Rollenverständnisses im Blick hatte. Das mag für andere Frauen gelten. Für Duras nicht.  Vielmehr sieht sie den äußeren Schreibraum, der ihr sinnliche Schreiberfahrungen ermöglichte, der sie an die Momente von Schreiblust, Schmerz, Wahnsinn und Einsamkeit erinnert. Sie sieht sich selbst im Außen.


[1] Guzzoni, Ute (2017): Wohnen und Wandern. Karl Alber. Freiburg. München. S.36.
[2] Ebd. S. 40.
[3] Ebd. S. 40.
[4] Duras, Marguerite (1994): Schreiben. Suhrkamp. Stuttgart. S. 7.
[5 ] Ebd. S. 10.
[6] Vircondelet, Alain (1992/1994): Marguerite Duras. Genehmigte Taschenbuchausgabe. Goldmann. München. S. 400.

Prosa Textperimente

Muscheln in meiner Hand

Vielleicht suche ich das, was Sokrates in seinem Gebet in PHAIDROS erflehte, wenn er sagt: „Laß den äußeren und den inneren Menschen eins werden.

Anne Morrow Lindbergh

Die Salzkruste, die zurückbleibt, lange nachdem das Meer die Muschel an die Küste gespült hat. Die Kruste auf der schiefermatten Oberfläche mit den Rillen und Furchen und dem scharfen Rand. Und darin verborgen das Perlmutt. Bleiben wir für einen Moment bei der nachweislich falschen, aber romantischen Idee, dass die Perle in der Muschel ein Schutz vor dem reibenden Sandkorn ist, das sich den Weg hinein gebahnt hatte, reingespült wurde. Das Sandkorn gehört da nicht hin, ist ein Fremdkörper und die Muschel bildet Schicht um Schicht Perlmutt um diesen Eindringling und am Ende entsteht etwas Wunderbares, Kostbares.

Die Taktik erinnert mich an die Japaner, die Risse in Gefäßen mit Blattgold schlossen und den Makel zur Einzigartigkeit formten. Kintsugi. So scheint es mir mit der Muschel und ihrer Perle zu sein. Das Meer schleift das Sandkorn in Äonen von Wellen und Strömen und es reibt und zerrt an dem zarten Muschelfleisch, gräbt sich ein und schmerzt. Unaufhörlich. Ich kann nicht sagen, woher die Muschel die Kraft nimmt sich dem Schmerz entgegenzustellen, aber sie tut es. Und vorsichtig beginnt sie eine hauchdünne Schicht um das Sandkorn zu legen. Zu zart, zu fragil ist diese erste dünne Schicht und es nimmt dem Schmerz nicht die Intensität.

Die zweite Schicht – und das Perlmutt schließt sich porzellangleich um den Fremdkörper, der hinter dem Silber nur noch erahnbar ist. Und langsam wird der Schmerz weniger und mit jeder Schicht Perlmutt der Panzer dichter und fester und stärker … der das Sandkorn umschließt und dem Schmerz seine Grenzen weist, bis der Ursprung nicht mehr erkennbar ist und das dunkle Geheimnis hinter dem Glatt verbogen ist und der Schmerz vergangen und die Perle nun Teil der Muschel, so wie das Sandkorn Teil der Muschel bleibt, zu ihr gehört wie das Perlmutt und das Silber und die salzige Kruste auf den Rillen und Furchen und den scharfen Kanten.


Textfragmente … Anne Morrow Lindbergh schrieb ein Buch mit demselben Titel. Über das Dasein und das Frausein. Und den Strand. Ich liebe den Strand. Ich kann dort denken und schreiben, auch, wenn Lindbergh meint, das ginge nicht. Vielleicht ist mein Strand ein anderer Strand? Vielleicht denke oder schreibe ich anders? Vielleicht bin ich eine andere Sorte Frau aufgrund meiner eigenen Zeit?

Anne Morrow Lindbergh: Muscheln in meiner Hand. JubiläumsEdition. Piper. München. 2004. S. 21.

Schreiben Textperimente

Schreiben II

Ich habe meinen Meister gefunden. Ich lese wieder Roland Barthes. Die Lust am Text. Das ist der Titel. Als ich das Buch als Photo auf Instagram postete, schrieb ich dazu, dass ich einen auf dicke Hose machen könnte, weil mein Text Die Lust am „E scheinbar darauf zu rekurrieren scheint. Da wäre ich nicht die Erste und es wäre trotzdem eine schöne rhetorische Geschmeidigkeit. Nun gut, belassen wir es dabei. Weiter schrieb ich, dass ich tatsächlich nicht wusste, dass es dieses Buch gibt und so nahm ich es als Zeichen, dass wir schwingen, der Roland und ich und uns im gleichen Literaturresonanzfeld befinden.

Ein Kompositum, das ich dann gerne für mich reklamieren möchte. Hat das schon jemand mal gesagt, geschrieben oder gedacht? Literaturresonanzfeld. Ich mag das Wort. Wie nun auch immer, das Lesen in „Die Lust am Text“ ist eine ernste Angelegenheit und ich verliere mich zwischen den wenigen Seiten des Buches. Ich hatte mich bereits Murakami hingegeben, also seinem Buch Südlich der Grenze, westlich der Sonne und ganz generell scheine ich mich Literatur einfacher hingeben zu können.

Ich bin auch ein bißchen stinkig. Ich hatte über das Schreiben geschrieben, über den Wahnsinn und die Lust und das Geräusch, wenn der Stift über das Papier kratzt und ich glaubte, meine Lust am Schreiben würde in meinen Texten durchscheinen. Es war das Gefühl, was mich ausfüllte, diese Lust im Schreiben, durch das Schreiben. Und das ist es jetzt auch noch. Ich will dieses Gefühl erforschen, ausloten, analysieren und auskosten. Ich will das Schreiben schmecken. Und jetzt kommt dieser Roland Barthes und schreibt einfach so Sätze, die ich gefühlt habe, die in mir darauf warteten, geschrieben zu werden.

Der Text, den ihr schreibt, muß mir beweisen, daß er mich begehrt. Dieser Beweis existiert: es ist das Schreiben. Das Schreiben ist dies: die Wissenschaft von der Wollust der Sprache, ihr Kamasutra (für diese Wissenschaft gibt es nur ein Lehrbuch: das Schreiben selbst).

Roland Barthes, Die Lust am Text. S. 12.

Oh Gott, wie ich ihn hasse, dafür, dass er diesen Satz geschrieben hat (na gut, eher aus dramaturgischen Gründen). Ich hätte ihn gerne selbst geschrieben. Und das ist wahr. Ich lese in diesem Buch und ich fühle diese Lust am Text … körperlich. Ich habe diese Erregung des Geistes durch die Sprache bei Walter Benjamin gefühlt und bei Waldenfels und auch bei Umberto Eco und eben bei Barthes. Schon in Am Nullpunkt der Literatur. Haben Sie schon einmal miterlebt, wie es ist, wenn jemand zum Beispiel über Benjamin spricht und Benjamins Worte Gedanken in diesem Menschen formen und die Schönheit dieser Gedanken aus dem Menschen, aus dem Körper strahlt. Das ist die poetische Magie des Textes, das Lusterleben im Text. Als wenn die Gedanken und die Wörter wie eine Aura aus kleinen Lichtpartikeln aus dem denkenden Körper nach außen fließen. Und das ist wunderbar.

Ich sitze in meinem Schreibzimmer und lese Roland Barthes (und denke ihn französisch) und ich will schreiben und die Lust am Schreiben ist wie der der Hunger nach der ersten Berührung eines Kusses. Dieses sehnsüchtige Warten auf den Satz, wie er sich auf dem Papier ergießt und die fiebrige Erregung im Schreiben, die meinen Körper befällt. Und da kommt er einfach daher und schreibt über Wahnsinn und Wollust und Lust und ich bin fassungslos.

Das Ineinandergreifen von Sexualität und Sprache begleitet unser ganzes Leben. […] Wenn man den Koitus analog zum Zwiegespräch auffasst, liegt es nahe, daß Masturbation dem Monolog oder dem Selbstgespräch gleichzusetzen ist.

George Steiner, Nach Babel. S. 36.

Ich gehe zurück zu dem Gedanken, dass ich den Namen – Roland Barthes – auf französisch denke. Und da muss ich an den alten Schlingel George Steiner denken. Ich denke in der Sprache, die letztlich meine Wahrnehmung bestimmt, wenn ich nach der Sapier-Whorf-Theorie gehe. Das bedeutet, jemand denkt in einer Sprache, seiner Sprache. Und das ist in meinem Fall Deutsch. Das ist fragmentarisch auch Englisch, weil mir die Sprache entrissen wurde, bevor ich sie mir ganz zu eigen machen konnte. Das bedeutet aber auch, dass ich nie Selbstgespräche auf Französisch führen könnte… Honi soit qui mal y pense.

Was macht das mit der Lust am Text? Ist Literatur ein Zwiegespräch des Autors mit sich selbst oder ein über die Zeit und den Raum gestreckter Dialog mit dem Leser? Ist Literatur eine offene Einladung an den Leser … seine Verführung? Sartre sagt, es brauche den Leser, um den Text erst zum Text zu machen. Und dann sagt er noch ein bisschen was über Freiheit.

Die Lust am Text wäre nicht reduzierbar auf sein grammatisches (phäno-textuelles) Funktionieren, so wie die Lust des Körpers nicht reduzierbar ist auf das physiologische Bedürfnis.

Roland Barthes, Die Lust am Text. S. 26.

Es geht nicht um Körper. Es geht um die Geheimnisse im Text, um das kunstvolle Verstecken und das lustvolle Suchen und Finden von Sinn und Ordnung und Bedeutung und Chaos, die die Wörter zwingen, eine Form einzunehmen und die durch die Wörter erst nach außen lebendig werden.

Ist doch mein Reden. Genau das habe ich in „Schreiben ist sexy“ gesagt. Ich muss nicht über Körper schreiben. Ich muss über das schreiben, was im Fühlen und Wollen passiert. Es ist das Denken. Es ist immer das Denken. Er hat es gefühlt und ich fühle es jetzt. Aber die Sätze sind geschrieben und so sind meine Worte kein allererster Kuss mehr. Immerhin oder vielleicht doch auch Schicksal, Roland Barthes schrieb Die Lust am Text in dem Jahr, in dem ich geboren wurde. Darf ich das bitte als Zeichen werten? Darf ich ihn als Lehrer nehmen, der mir die Lust am Schreiben erklärt, der sie für mich sinnlich wahrnehmbar und denkbar macht. Darf ich mich an seinen Worten berauschen, um meine eigenen zu finden?

Das ist eine andere Ebene des Schreibenlernens. Ich lerne das Handwerk und das sehr gründlich. Stephen King schreibt sehr schön über den Werkzeugkasten. Und auch etwas zur Lust, die klingt durch. Aber das hier, mit Roland Barthes, das ist was anderes. Das ist Schreiben an der Quelle des Triebes, an seinem Ursprung, das ist lernen, den Schreibdämon zu erkennen und zu beherrschen , anstatt sich von ihm beherrschen zu lassen und sich im Schreiben zu verlieren. In Büchern darf man sich verlieren, im Schreiben selber auch, aber den Schreibtrieb, der will kontrolliert werden. Aber warum? Weil der Schreibdämon einen in den Wahnsinn treiben würde? Weil dann kein Schreiben passieren würde? Weil das Schreiben im Wahnsinn nie aus der Ebene der Gedanken ausbrechen könnte, um lesbar zu werden …

Know thyself, erkenne den Schreibdämon. Das ist es, die Suche nach den eigenen Worten, nach der eigenen Geschichte, die nur von mir erzählt werden kann. Meine Geschichte. Mein Schreiben.

Inspirationen Schreiben Textperimente

Schreiben I … Die Lust am „e“

Der Schriftsteller wird nicht durch den Gebrauch spezialisierter Werkzeuge definiert, an denen man erkennt, daß es sich um Literatur handelt […] – es sei denn, man hält die Literatur für ein Objekt der Hygiene – , sondern durch seine Macht, auf dem Umweg über eine Form, welche es auch sein, eine besondere Form der Kollusion von Mensch und Natur überraschend aufzudecken, das heißt eine Bedeutung. […] Sie [die Literatur] ist ein Code, den zu entschlüsseln man akzeptieren muß.

Roland Barthes (Am Nullpunkt der Literatur, Suhrkamp 2016)

Mit der Sprache ist das schon eine seltsame Angelegenheit. Buchstaben formen sich zu Wörtern und Wörter zu Sätzen und erst durch die Bedeutung entsteht die Lust an der Sprache. Und es ist unabstreitbar, dass Sprache etwas Lustvolles ist, denn Sprache ist Gedanke und Gedanke ist präzisiertes Gefühl und Gefühle, nun – Gefühle kann man nicht in Sprache ausdrücken. Man kann sich ihnen nur annähern. Wenn Sprache nun also präzisiertes Gefühl ist, eine Anäherung an ihr Wesen und oft ein jämmerlicher Versuch, dann ist jede Sprache auf ihre eigene Weise schön, ob wir sie nun verstehen oder nicht.

Nehmen wir einmal einen Namen. Namen bezeichnen Dinge und stehen für ihre Einzigartigkeit, auch wenn sich viele Menschen einen Namen teilen müssen und erst in der Beziehung zu diesem einen Menschen wird sein Name zur Bezeichnung und damit zu etwas Wahrem und Schönen und Einzigartigem.

Nehmen wir einmal Roland Barthes. In der französischen Sprache gibt es keinen Raum für das “e” am Ende und erst recht nicht für das “s”. Aber wenn ich den Namen ausspeche, “Barthes”, dann denke ich das “E” und es schwingt in dem Gefühl mit, mit dem ich den Namen in die Welt entlasse und das “E” ist wie ein Versprechen, das im Raum steht. Das Versprechen löst Lust aus, denn die Sprache formt sich in mir und ist das Gefühl und ohne Roland Barthes zu kennen und so auch keine Beziehung zu diesem Namen zu haben, so löst es doch Lust aus, an der Sprache und dem Gedanken und der Name ist in mir und damit wahr und schön in seinem Klang und seinem Nachhall in mir selbst.

Lyrik

Herbstliebe

Herbstliebe

Blätter fallen von Bäumen

gelb und braun

auch die Gefängniszellen sind leer

Teebrandung in meinem Blut

Milch schlägt hohe Wellen

schmilzt auf meiner Haut

Honig tropft von blonden Locken

und Du verdorrter Halt im Nebel

ragt zwischen den Bäumen

aus der Dunkelheit

inmitten der Nacht

laubaufwirbelnd

 im feuchten Moder warm

wenn Äste knacken

Wind den Wald bewegt in lautloser Stille

Stimmen über den Horizont hallen

und Herbst in meiner Liebe ist

Lyrik

Und was der Tag so bringt

Und was der Tag so bringt

Bunte Schatten auf Eichenrost

Wellblech dumpft im Sonnenlichte.

Natürlich nicht jedermanns Sache.

Der Morgentau, er feiert wild

und hektisch in Betriebsamkeit.

Und was der Tag so bringt.

Steht abends wie von selbst geschrieben

Auf käsigen Mondscheiben.

Auch das ein Fluch für den, der´s lesen kann.

Lyrik

Gartenstrolch

Du Gartenstrolch meiner brachen Hirnäcker

mit behutsamen Händen pflügst Du meine Gedanken

um neue Träume zu säen.

Hab Dich nicht eingeladen, Du Vogelscheuche mit leuchtendem Herz

den Weg gebahnt

Durch Kraut und Kruste, wüstes Wurzeltreiben

Liebevoll jede Krume bekümmert, die durstig nach dem Regen lechzte

Strahlst mich mit erdigem Blick an, gewissenhaft

und zarte Regungen ihre Knospen treiben

im Jahreszeitenreigen Hand in Hand

laufen uns die Krähen davon

und übrig bleibt ein kleines Schaf, das stetig durch das Grüne grast

Lyrik

Les Bavardes

Les Bavardes – Die Schwätzerinnen

Wenn´s denn dann – ach, ja, und wann?
Was ist bloß – natürlich, war doch klar!
Da grub und forschte, es ewig währte
Grund und gütig, das Entsetzen ist echt.

Was auch passiert – ist schon geschehen.
Gesehen? Nein, kein Anschluß unter diesem Anblick!
Fürweil und mit reinem Gewissen
Die Schuld trägt schwer an sich selbst.

Ach, Hoffnung, karger Wüstenboden!
Dein Traum ist nicht ganz ausgeschlafen.
Ach, Hoffnung, lebloser Geist!
Dein Hauch mit langem Atem.

Wie man auch fühlte – die Herzen anrührte.
Schaurig war´s mit anzusehen!
Die Einsamkeit ein treuer Pfand.
Gerührt, verschüttet auf der Seele Totenhemd!

Lyrik

Für Sophie

Für Sophie

Möge sie in Frieden ruh´n.

Denn das hat sie sich ausgebeten.

Stünde man auf dem Kaminsims

Dann müsste man beim Staubwischen

Zur Seite rücken

Und da hilft nichts

Und sei das Porzellan auch noch so schön

Lyrik

Kaffeekränzchen

Kaffeekränzchen

Von der kunst im regen kaffee zu trinken

Wenn der brüllaffe gegenüber seine zigarre pafft

Und das geschirr auf dem tresen ungeduldig klappert

Dem kellner die milchdüse geht

Und die cocktails noch nicht geschüttelt sind

Obwohl auf dem buffet schon die butter auf dem croissant verdampft

Die kunst, in all dem treiben und wirken

Das ticken der uhren mit den herabstürzenden regentropfen

zu verschmelzen

zu einem rhythmischen kosen meiner ohren zu komponieren

die zarten aromen zu schnuppern

wie ein dackel im „hab acht“ und die augen zu schließen

weil so allein mit dem milchschaum

ja auch ganz poetisch sein kann


Lyrik

Die Nacht der Priesterinnen

Die Nacht der Priesterinnen

Weit ziehen die Felder hinaus in den Himmel

tragen meine Träume zu den Sternen.

Werden meine Wünsche jemals erhört?

Endlos erstreckt sich der Weg zu den Hügeln

An dessen Felsen sich die Sonne bricht.

Zu viele Versprechen wurden gebrochen

Zu viele Lügen wurden verbreitet.

Laut, das Rauschen und Rascheln der Bäume

Heimliches Lied, von fern tönt die Nachtigall

So lieblich ein letztes Mal.

Weich umhüllt die Nacht und

läßt das Reich der Schatten erwachen –

bin ihm näher als sonst irgendetwas.

Warm, die Luft und kühlend auf den Wangen

Streichelt ein letztes Wort von Dir.

Werde ich Dich wiedersehen?

Der Duft der Wälder läßt mich zweifeln,

die Stille hält mich gefangen.

Gestern noch Spiel der Sonne wiedergebend

Und Dein Gelächter erstickend tanzen nun 

Elfen zu den Klängen der Vergangenheit.

Lausche ihrem Gesang und treibe verborgen

Unter Weiden in der Zeit.

Ein Wellenschlag, eine Bewegung der Blätter

und fort, so schnell wie ein Kuß entschwebt

und doch Erinnerungen zurücklassend,

die von den ersten Sonnenstrahlen am Horizont erahnend 

ausgetrocknet werden,

der Zauber.

So tauche ich in die grüne Flut,

kleide mich in Algen um das Lied der Feen zu singen

und auf die Morgenröte zu warten.

Schenke ihr meine Schönheit

und den Wäldern meine Stimme,

versinke und fühle den Wind die Oberfläche bewegen,

ließ meine Liebe am Ufer zurück

mit dem Lachen Deiner Augen und

treibe dem Licht entgegen, die Spuren des Mondes auf meinen Lippen.

Lyrik

Der arme Poet

Der arme Poet

Der Dichter, er durchdringt das Licht
aus tiefen dunklen Erden.
Mit vielen Ah´s und Oh´s
sich hoch gekämpft,
zumeist doch eher recht verborgen.

Durch Schlamm und Tod,
mit Schmerz und Qual,
er fordert sich sein Leben
als wenn´s kein Morgen gäbe.

Doch dann, ein zartes Blau,
wie lieblich am Horizont will scheinen
das Wort, es leuchtet nach Moral
und keiner kann sich´s darauf reimen.

Textperimente

So ein Zufall. Über Synchronizität

Meine Synchronizitätsgeschichte beginnt in der Haus&Hof-Buchhandlung. Haus&Hof ist übrigens als kontextuelles Präfix im Sinne einer Beziehungs- und Qualitätsäußerung zu verstehen. Aber bevor die philo-linguistischen Pferde mit mir durchgehen, komme ich zurück zum Buchladen meines Vertrauens. Ich holte das bestellte Buch ab und zum Welttag des Buches gab es darüber hinaus ein kleines Buchgeschenk: Mark Forsyth, Lob der guten Buchhandlung. Entsetzlich nett geschrieben und worum geht es? Um genau mein Thema.

Echt jetzt? Das kann nicht wahr sein. Das glaubt mir doch keiner!

Forsyth nimmt ein Zitat von Donald Rumsfeld zum Anlass, um über wissendes und unwissendes Wissen und Bücher zu schreiben, die nur darauf warten gelesen zu werden. Das ist ganz schön gemein. Auf einer spirituellen Ebene schwinge ich in einer universellen Wissenswolke, deren Informationspartikel wie Sternenstaub auf mein Umfeld regnen. Ich wollte, bitte schön, aber auch ein bemerkenswerter Tropfen sein. Wäre – Konjunktiv – wäre mein Beitrag bereits erschienen, könnte ich mit einer lässigen Selbstzufriedenheit den Trendsetter mit dem richtigen Riecher geben: „Nachtigall, ick hör‘ Dir trapsen.“

Iss et aber nich. Meine Erkenntnis nebst Zeichnung ist also keine Innovation, so generell gesehen. Das dürfte auch schwierig sein, denn je mehr Wissen entdeckt wird, umso geringer werden die Möglichkeiten, gänzlich Unbekanntes zu entdecken. Umso spezifischer muß die Erkenntnis ausfallen. Auf mich, als kleinste Wissenseinheit, runtergebrochen heißt das aber auch: unabhängig vom großen ganzen Wissen gibt es unendlich viel Wissen, was ich für mich selbst entdecken kann. Ganz neu, ganz frisch. Für jemand anderen ist das zwar dann ein alter Hut, aber das macht ja auch gar nichts.

Aus dieser Perspektive ist Synchronizität etwas Schönes. Ich schwinge mit, ich teile Gedanken und Wissen mit Menschen in einer interessenbasierten Schnittmenge, da bin ich dann doch intellektuelles Herdentierchen. Und ich teile diesen meinen Gedanken mit Euch. Verbunden mit einer höflichen Leseempfehlung.


Forsyth, Mark: Lob der guten Buchhandlung oder Vom Glück, das zu finden, wonach Sie gar nicht gesucht haben. Übersetzt von Peter Sillem. Frankfurt. S. Fischer Verlag.

Autoren

Der Werbe-Tölt oder Der Druck, medial omnipräsent sein zu müssen.

Beim Tölt handelt es sich um eine Gangart des Pferdes. Diese kommt ohne Schwebephase aus und variiert in der Geschwindigkeit zwischen Schritt und Galopp. Das Pferd ist ein hohes Tier, welches ich aufgrund meiner Höhenangst nur aus der Ferne und mit gering ausgeprägtem Interesse in meine Wahrnehmung einbeziehe. Anders verhält es sich mit dem Tölt.

Der Tölt als Gangart begegnete mir beim Hören der NDR Comedy „Wir sind die Freeses“. In der Folge vom 02.11.2015 ging es nun um den Tölt als Bewegungsform, wenn man zum Beispiel den letzten Platz auf einer Parkbank entdeckt, jemand anderes offensichtlich auch und man fängt ganz unauffällig an seinen Schritt zu beschleunigen, damit man diesen Platz erwischt. Darf aber keiner merken, das mit dem Beschleunigen.

Was hat der Tölt nun mit Autorenvermarktung zu tun?

Werbung, Marketing und das liebe Internet leben von total neuen Ideen, innovativen Werbestrategien und die passende Floskel dazu heißt: aufmerksamkeitsstark. In der Masse an Werbung, in der noch größeren Masse an Informationen – und wenn man sich das Internet und da speziell das Social Media anschaut – diese Kakophonie aus Informationsschnipseln, Links und Statusmeldungen produziert ein ohrenbetäubendes Gebrüll, Gelaber und Gekreische, daß man sein eigenes Wort nicht mehr versteht. Wie also in diesem Social Lärm auffallen, wie überhaupt irgendwem zuhören können und wollen?

Grundsätzlich geht es um Aufmerksamkeit. Für jedes Anliegen, Interesse und Produkt gibt es Informationen im Netz. Mal mehr unterhaltend, mal mehr informativ, im besten Falle beides. Als Konsument suche ich nach für mich relevanten Informationen, die mein individuelles Bedürfnis befriedigen. Als Produzent biete ich Inhalte, welche die unterschiedlichen Bedürfnisse des Konsumenten ansprechen und befriedigen sollen.

Als Autor vermarkte ich mein Produkt, das Buch mit der Marke „Ich, der Autor“ über das Verbreiten von Informationen über Produkt und Marke. Leseproben, Rezensionen, Bloggen, Kommunizieren als Marketingstrategie. Gleichzeitig bin ich aber auch Konsument und suche nach Inhalten, wie ich mich selbst effektiv, budgetfreundlich und effizient vermarkten kann. Ich suche also Inhalte, die mit meinem Bedürfnis nach Information, Lernmöglichkeiten, Kontakten korrespondieren.

Bei Twitter, als Beispiel, rasen Informationen durch die Timeline, die ich zwar in Listen sortieren kann, aber trotzdem nach persönlicher Relevanz filtern muß. Vlogs und Podcasts bieten How-To und DIY- Beiträge, die die gleichen Inhalte bedienen, die ich vielleicht auch selbst anbiete. Und da ist er, der „Werbetölt“. Der Werbetölt ist ein psychologisches Phänomen. Ganz unbewußt baut sich Druck auf, der von der Konkurrenz und den Mitbewerbern um die Aufmerksamkeit des Konsumenten mitgetragen wird. Mal aktiv, mal unabsichtlich passiv.

Beispiel Autor: ich schreibe einen Artikel über Eigen- und Fremdwahrnehmung im Marketing. Gleichzeitig erscheint ein Beitrag in einer Zeitung, es gibt einen Vortrag von irgendwem, der beworben wird; es gibt drei Links in der Twittertimeline zu ähnlichen Inhalten, ein ganz neues Webinar von Firma xy und drei entfernte Bekannte diskutieren das in ihren vlogs. Örggssss … was, wenn mein Link auf Twitter zur falschen Zeit durch die Timeline von potentiellen Lesern dümpelt? Was, wenn die schon einen anderen Beitrag gelesen, gesehen und gehört haben und nun kein Interesse daran haben, zu vergleichen, ob ich besser oder informativer geschrieben habe? Was, wenn schon siebzehn andere auf fünf andere Beiträge zum gleichen Thema verlinkt haben? Was, wenn ich den Beitrag erst geplant habe und sehe, daß die soziale Gemeinheit bereits eifrig vorhandene Beiträge diskutiert? “ Hallo, ich hab da auch was geschrieben!“ „Hallo???“ „Haaaalooooooooooooo!“

Ich bin mir sicher, daß sich alle schon einmal diesem Werbetölt ausgesetzt gefühlt haben. Den Druck im Nacken hatten, schneller, besser und omnipräsenter zu liefern, damit just dann, wenn mal eine Millisekunde Ruhe im medialen Bau herrscht, alle hergucken. Manchmal erschlägt einen schier die Flut an Input und gefühlter und/oder echter Konkurrenz. Was also tun?

Durchatmen. Konzentriert Euch auf Eure Inhalte. Macht sie zu den besten Inhalten, die Ihr produzieren könnt. Kommuniziert sie in Eurem Tempo auf den Kanälen, in denen Ihr Euch wohlfühlt und authentisch sein könnt. Ein Social Media Hans-Dampf-in-allen-Gassen wird Euch früher oder später in ein ganz reales Burnout treiben. Und das nimmt Euch den Spaß am Schreiben, am Vermarkten und den Glauben, dass es auch für Euch einen Platz in diesem ganzen Gesumme und Gebrumme gibt. Die anderen kochen auch nur mit Hühnerbrühe.

Probiert alles aus, alle Marketingstrategien, alle Kommunikationswege – aber mistet auch wieder aus. Fokussiert Euch auf das, was für Euch funktioniert. Mit der Erfahrung profiliert sich Euer Vemarktungsweg, Ihr als Marke. Die Ecken und Kanten stoßen sich ab, was übrig bleibt, ist sauber geschliffen. Das nennt man dann ausgereift. Und das schafft wieder mehr Aufmerksamkeit. Aber Probieren, Scheitern, Modifizieren, Lernen und auch einfach mal erfolgreich durchrauschen ist ein Weg und kein Harry-Potter-mäßiges Apparieren von Null auf Hundert.

Die Selbstvermarktung besteht nicht nur aus dem Umsetzen vieler Marketingstrategien und Werbemaßnahmen, sondern auch um einen achtsamen Umgang mit sich selbst, der professionellen Markenpersönlichkeit. Selbstdisziplin bedeutet nicht, sich abzuschuften, sondern ganz im Gegenteil die eigenen Ressourcen, körperlich, geistig und damit auch die kreativen wertzuschätzen und pfleglich zu behandeln.

Erfolg ja und gerne, aber vergesst das Atmen nicht. Das einen Schritt zurück treten und auch Euren Weg zum Erfolg zu genießen.

Autoren

Selbstvermarktung als Autor oder Würde ich verkaufen wollen, wäre ich Vertreter geworden

Neulich stolperte ich über mehrere Artikel, in denen es um Selbstvermarktung ging und um Inbound als die Zukunfts- und Contentstrategie. Ich hatte bereits die Idee im Kopf, die Eigenwahrnehmung bezogen auf Selbstvermarktungsdruck und -notwendigkeit aus meiner Perspektive zu erzählen. Also, wenn nicht jetzt, wann dann? Im Marketing beschreibt Inbound den Weg, durch Inhalte zu überzeugen und so aus Besuchern Kunden und Fans zu machen, frei nach dem Motto „gefunden, für gut erachtet und weiterempfohlen“. Outbound ist die gute alte One-Way-Werbeansprache an den Kunden mittels Anzeigen, Spots … also „wenn ich mich dem Kunden in den Weg schmeiße, muß er mich auch sehen“. Das ist jetzt so grob, worum es dabei geht.

Ob nun als Fotograf, Autor oder Steuerberater, ich bin Unternehmen und Produkt in einer Person.

Als Texter und Freiberufler vermarkte ich mich selbst. Weder als Texterin, noch als Autorin betreibe ich Outbound, ich schmeiße mich dem potentiellen Kunden also nicht an den Hals. Im Gegenteil, ich sitze wie eine Spinne geduldig am Rande meines Netzes und spinne meine Fäden. Ja … die Assoziationskette funktioniert bei Euch in Nanosekunden. Ich schreibe weiter, wenn Ihr ausgelacht habt … Das Bild mit dem Spinnennetz ist in der Tat eine ganz brauchbare Metapher, viel besser als die Schnecke, die eine Schleimspur hinterläßt! Igitt.

So ein Spinnennetz wächst ganz organisch und ist ebenso natürlich in seine Umwelt eingebettet. Das Netz sind die Inhalte, die ich bereitstelle, um potentiellen Kunden mein Angebot und den damit verbundenen Nutzen zu vermitteln. Und nein, ich bin keine Schwarze Witwe, die heimtückisch auf der Lauer sitzt, bis sich ein wehrloser Kunde in meinem Netz verfängt. Ich spinne auch niemanden als Abendessen ein. Mein Netz ist nicht klebrig und man kann sich nur dann darin verfangen, wenn man über der Faszination des Lesens (ich schreibe ganz tolle Texte!) die Zeit vergessen hat. Wäre ich ein Outbounder, käme ich als Säbelzahntiger daher, der keck hinter einem schönen Gebüsch hervorspringt und dann mit Gebrüll vor dem schlotternden Kunden hin und her schleicht. Auwei. Dann doch lieber eine mythologisch-griechische Sirene, deren verlockender Stimme niemand widerstehen kann. Ihr seht, anregende Assoziationen gibt es en masse.

Ich möchte den Gedanken mit dem Spinnennetz noch einmal aufgreifen. Um Erfolg zu haben, also mit meiner Kunst „Schreiben“ wahrgenommen zu werden, muß ich mich vermarkten. Was ich dabei als Erfolg definiere, entscheidet über die Vermarktungsstrategie. Will ich den Literaturnobelpreis? Will ich monatliche finanzielle Umsätze, die mir ermöglichen, Miete, Friseur und Brötchen zu bezahlen? Will ich mal ins Dschungelcamp oder per Du mit Stephen King sein?

Für einen langfristigen und dauerhaften Erfolg brauche ich ein systematisch aufgebautes Konzept, welches mein Erfolgsziel in einen Erfolgsweg übersetzt.

Und dafür brauchen wir den USP (Unique Selling Proposition) oder in schönem Deutsch: das Alleinstellungsmerkmal. Was unterscheidet mich von tausend anderen Autoren und/oder Textern? Was macht mich kauf- und empfehlungswürdig? Was macht mich interessant und erinnerbar – merkwürdig im Sinne von würdig, in Erinnerung behalten zu werden?

Ich habe keine Marke, ich bin die Marke.

Ich selbst bin das Produkt. Und wie könnte ich mich besser vermarkten, als mit dem Schreiben durch das Schreiben. Das Schreiben als Produkt ist gleichzeitig das Instrument, die Kommunikations- und Marketingstrategie. Schreiben über das Schreiben, sowohl thematisch als auch funktionell. Das ist Schreiben auf mehreren Ebenen. Oder denken. Oder beides.

Ich suche mir also Kanäle, in denen ich schreibend Inhalte schaffe, die sowohl Nähr- als auch Mehrwert bieten. Je nach Tagesform und Kommunikationskanal steht meine multiple Schreibpersönlichkeit der Sache kritisch gegenüber. Der Texter fordert Effizienz, der Autor möchte Qualität. Die Schreibtherapeutin möchte das ganz gruppendynamisch nochmal durchdiskutieren. Am Ende sitzen wir alle zusammen (also die Schreibpersönlichkeitsanteile) und brüten 17 Minuten über einem Tweet, den maximal drei Leute lesen und der in 2 Minuten kalter Kaffee ist. Der Texter will provozieren, will Kopfdiskussionen in Gang bringen, der Lyriker lehnt eine derartig unverfrorene Taktik kategorisch ab. Der Poet schwelgt in Bildern, verliert sich in der Sprache, der Werber rollt die Augen. Der Literat will Tee, der Schreiber Kaffee, Schokolade geht immer – spiel mit dem Klischee, johlt der Marketer.

Ganz beschwungen von dem Gedanken – jetzt haltet doch mal alle die Klappe, wir gehen das professionell an – fahre ich zur Bahnhofsbuchhandlung und erwerbe eine Ausgabe des „der selfpublisher“. Marketing für Autoren und für mich Selbstvermarktung von einem anderen Blickwinkel aus. Da hilft der Werbehintergrund. Sich immer wieder neu auf Themen, Inhalte einlassen: Als Texter bin ich extrem neugierig, wissbegierig, lerne gerne. Wie jemand, der an einem Buffet vom allem ein Häppchen probiert, anstatt sich den Teller turmhoch nur mit einem Gericht zu beladen. Auf dem Hinweg höre ich David Bowie, „Black Tie White Noise“. Das ist lässig und sophisticated zugleich. Auf dem Rückweg bin ich dann aber doch aufgeregt: intellektuelles Befruchten, was werde ich gleich herausfinden, was davon bringt mich weiter, was auf neue Gedanken? Es läuft P.O.D. „Here comes the Boom“. Tschakka.

Ich finde Bestätigung für das, was bei mir unter gesundem Menschenverstand (einfache Logik und beginnende Altersweitsicht) läuft. Authentizität bei gleichzeitiger zielgerichteter Markenpersönlicheit. Macht ja auch Sinn.

Niemand erwartet von Stephen King eine romantische Schnulze “ Shining II – Liebesschwüre im Sonnenuntergang“ oder einen intergalaktischen Erotikthriller „Fifty Shades of Dark Matter“ von Stephen Hawking.

Das bedeutet für mich, Schreiben können andere auch, sich vermarkten, Ahnung verbreiten, aber diese meine multiple Schreibpersönlichkeit, die bringe nur ich mit. Schubladen brauche ich nicht. Ich lese Francis Crick und Sophie Kinsella, ich liebe Sissinghurst und Jamie Oliver, ich tapeziere selber und ich besitze einen Nagellack, irgendwo, glaube ich. Ich würde tatsächlich über Wimpertusche schreiben – für Geld – und ich rede privat nicht über das Schreiben, das ist mir heilig. Ich philosophiere über Schreibprozesse und bin auf Veranstaltungen die, die in der letzen Reihe am Ausgang sitzt und die, die sich traut, wenn keiner den Mund aufkriegt.

Identifikationspotential vorhanden? Ist das jetzt Marketing oder authentisch? Der Werber ist berufsfrustriert von dem ganzen Butterfahrtkaffeerheumadeckenwerbeschrott. Der Lyriker sieht sein Seelenleben brutal der Öffentlichkeit ausgebreitet. Irgendwo zwischen Marke, Werbeverantwortlichem und Privatmensch liegen die Grenzen. Ein Pseudonym reicht da nicht, schon eher eine Pseudopersönlichkeit. Aber das will keiner kaufen. Authentisch, echt – nur wo Autor drauf steht, ist auch Autor drin?

Um sich selbst zu vermarkten, hilft es, zuerst und ganz für sich selbst Grenzen zu definieren. Wie präsentiere ich mich öffentlich. Wenn ich also eine Marke bin, was macht die Marke aus, was ist ihr Profil? Welche Schritte muß ich gehen, um meine Ziele zu erreichen? Frei nach Oprah Winfrey:

Schreib, was Du schreiben must, bis Du schreiben kannst, was Du schreiben willst!“

Inbound ist in der Selbstvermarktung eine wirksame Strategie. Über die Selbstdarstellung baue ich eine Beziehung zum potentiellen Kunden auf. Und genau das ist der springende Punkt. Kunden wollen kein anonymes Produkt, sie wollen einen Erlebniswert, ein Gefühl der Verbundenheit über die Marke besitzen.

Die Wahrnehmung von mir als Mensch überträgt sich auf die Erwartungshaltung auf mich als Produkt. Wenn ich mich gut verkaufe, verkaufe ich mich auch als Produkt. Der Trick ist, nicht verkaufen zu wollen.

Also sich nicht marktschreierisch jedem in den Weg zu schmeißen, krampfhaft Aufmerksamkeit erzwingen zu wollen. Schreiben über das Schreiben. Konsequent und ausdauernd. So wächst die Marke organisch, es bleibt Zeit, um kleinere Korrekturen vorzunehmen, die Strategie anzupassen. Und es bietet einen Raum für Experimente. Davor sollte man keine Angst haben. Kleine Ausflüge in unbekanntes Terrain – Scheiterrisiko inklusive – schulen, härten ab, bieten Übungsfläche. Mit der Zeit und den Projekten entwickelt man sich weiter, schärft das Profil und bekommt auch einen erfahrungsreicheren Blick auf sich selbst. Mir und meiner Persönlichkeitsstruktur kommt das entgegen. Denn wenn ich verkaufen würde wollen, dann wäre ich Vertreter geworden.

Inspirationen Prosa

Mädchen mit Perle

Ich wusste nicht, dass sie hier sein würde. Der Gedanke wäre mir nie in den Sinn gekommen, schon gar nicht, sie hier zu suchen. Umso überraschter sog ich die Luft ein, als ich in Bruchteilen von Sekunden begriff. Sie war es. Kein Abbild, keine billige Kopie, kein Schatten. Und dann schaute ich sie an. Ganz bewusst. Vermeers Das Mädchen mit dem Perlenohrgehänge. Mein erster Gedanke war, das ist unser Bild! Das gehört hier nicht her! Und doch hing sie dort, schutzlos den Blicken unzähliger Menschen ausgeliefert. Im gleichen Moment wurde mir die Absurdität bewusst. Natürlich gehörte uns das Bild nicht. Trotzdem fühlte ich mich eigenartig, entblößt. Sie war so fremd in diesem roten Raum.

Ich war gerade geboren worden, als meine Mutter das alte Haus mit den knarzenden Dielen und den blind gewordenen Spiegeln renovieren ließ, in dem schon Generationen vor uns ihre Spuren hinterlassen hatten. Trotzdem blieben einige Dinge so, wie sie schon immer gewesen waren und die Zeit konnte ihnen wie durch Zauber nichts anhaben. So auch die Bilder in der Galerie, zu der die breite, dunkle Holztreppe führte. Sehr viel früher hatte es Teepartys und Empfänge in unserem Haus gegeben und ein Freund der Familie, ein begnadeter Künstler, hatte auf freundliches Drängen meinen Ur-urgroßeltern drei Gemälde geschaffen. Der alte Herr war in der Lage, klassische Ölgemälde täuschend echt zu kopieren. Und neben dem Vermeer hingen später noch das Portrait Mme Duvauҫay´s und ein Selbstbildnis von Jean Auguste Dominique Ingrés, wie dieser gerade das Portrait der jungen Frau anfertigte. Natürlich waren sie der Mittelpunkt eines jeden Besuches.

Der französische Maler genoss als populärster Vertreter des Klassizismus des 19. Jahrhunderts einen internationalen Ruf und selbst in der höheren Gesellschaft wurde zwar über die Salons in Paris gesprochen, besucht hatten sie die wenigsten, geschweige denn eine Kopie eines der ausgestellten Werke besessen. Und so riefen die virtuos gefertigten Bilder selbst als offizielle Kopie Bewunderung und Ehrfurcht hervor, die sich vermutlich mit den Originalen messen lassen konnten. Während der Renovierungsarbeiten wurden die Rahmen gründlich entstaubt und die Leinwände auf Risse und Schäden überprüft und schließlich hingen sie, inzwischen als hochgeschätzte Antiquitäten, wieder an ihren alten Plätzen.

Ich berührte heimlich die wellige Struktur der gespannten Leinwand. Sie fühlte sich glatt und kühl unter meinen kindlichen Fingerkuppen an. Damals beeindruckte mich zwar durchaus die virtuose Maltechnik, die Motive mit den prächtigen Rahmen waren mir allerdings viel zu barock, zu düster, zu beklemmend. Ich fand die Impressionisten toll und mein Zimmer zierten Poster mit Motiven von Monet. Oder Roy Lichtenstein, das war Moderne! Erst viel später wurde mir der subtile Einfluss der Ölbilder und ihre zeitlose Schönheit wirklich bewusst. Tatsächlich waren die Bilder wie geheimnisvolle Fenster in eine andere Welt und ich stand manchmal minutenlang auf den Stufen, beobachtete den Lichteinfall und das Schimmern der Farben. Sah das feine Relief der hauchzarten Ölschichten und den Pinselstrich. Ich sah das Bild aus verschiedenen Entfernungen und wie sich diffuse Farbe zu konkreter Gegenständlichkeit verwandelte. Dann wieder waren sie stumme Zeugen meines Lebens, meiner Freude, wenn ich laut die Stufen herunter polterte und meiner Angst, wenn ich mich in der Dunkelheit an das Geländer klammerte. Abends war ihr Blick der letzte Gruß ich die Nacht und morgens eilte ich noch schlaftrunken unbemerkt an ihnen vorbei. Sie, das Mädchen mit Perle, wie ich sie nannte, schien mich manchmal fragend anzuschauen und dann wieder schien sie lächeln zu wollen. Eine stumme Einladung, ihr zu folgen. Je länger ich ihrem Blick standhielt, umso mehr Leben schien er zu gewinnen, umso mehr wechselte der Ausdruck und ihre auf Leinwand gebannten Gesichtszüge schienen eine Geschichte zu erzählen.

Ich hatte meine Kindheit und meine wundersamen Augenblicke mit meiner schweigenden Freundin hinter mir gelassen. Ich zog fort, lebte in einer anderen Stadt und schließlich hatte ich auch die Gemälde und meine stille Begleiterin vergessen. Bis ich das Mauritshuis in Den Haag besuchte und zum ersten Mal das Original sah. Die runden Augen der jungen Frau schauten mich mit derselben vertrauten Intensität an. Ich hatte das Gefühl, als wenn unser Bild das eigentliche Original war und jenes dort die Kopie. In meiner Erinnerung war das Mädchen mit Perle eine Selbstverständlichkeit, an der ich jeden Tag wieder und wieder vorbeiging. Es kam mir sehr merkwürdig vor, dass Menschen für dieses Bild in ein Museum gehen und Geld bezahlen mussten. Noch merkwürdiger, dass sie einsam in einem kleinen rot ausgekleideten Raum hing – eine unter vielen – und dann doch unvermittelt ins Auge sprang. Und während ich dort in diesem Raum stand, verschwanden die Menschen, die Stimmen und Geräusche. Ich forschte in ihrem Gesicht und sie zwinkerte mir zu. Als ob sie sich ebenfalls erinnert hätte. Und jenseits der Gegenwart teilten wir heimlich und unbeobachtet einen kostbaren Augenblick des unausgesprochenen Verstehens. Ich erinnerte mich an all die Momente meiner Kindheit, als wenn sie plötzlich die Antworten preisgab, nach denen ich früher gesucht hatte. Sie hatte mir ihr einziges Geschenk, ihr Vermächtnis gegeben. Die Erinnerung an meine Kindheit und die Erinnerungen all der jungen Frauen, die vor mir bewundernd und manchmal auch angstvoll schaudernd vor ihrem Portrait stehen geblieben waren. Wir alle waren vereint in dem Wunsch, den Blick der jungen Frau zu entschlüsseln, ihr Geheimnis zu begreifen und unserem eigenen Schicksal zu entfliehen. Aber ihr Blick blieb unergründlich. Ihr Bann war ungebrochen.

Vor ein paar Tagen begegnete sie mir wieder. Diesmal auf dem Cover eines Buches in meinem Lieblingsbuchladen. Ich musste es einfach aus dem Regal nehmen. Ein Roman über die junge Frau, über ihr Leben, über das Leben in den Niederlanden des 17. Jahrhunderts. Eine Geschichte, wie es hätte sein können, wie es zu diesem Gemälde hätte kommen können. Ein plastisches und eindringliches Bild dieser Epoche entstand vor meinen Augen. Delft als Handlungsort, Utrecht als kulturelles Zentrum der bildenden Künste, exotische Gewürze, Spezialitäten und Kostbarkeiten aus fremden Ländern, die auf den Märkten gehandelt wurden, die Tulpe als Blume einer Nation, die die Vergänglichkeit und den Kreislauf der Natur symbolisiert und dazu die scheinbar unauslöschbaren Regeln der Etikette, gesellschaftliche Normen, soziale Begrenzungen und die Diskrepanz zwischen gemaltem und gelebten Leben. Mir schien, als ob das Bild aus unserem Haus nach Jahren ein weiteres Geheimnis preisgab. Sie war nicht länger die anonyme Frau, deren Blicke mich aus dem Bilderrahmen verfolgten und denen ich mich nicht entziehen konnte. Als ob sich der Kreis schließen würde, erfuhr ich jetzt, da ich nicht mehr in diesem Haus lebte, ihre Geschichte. Ich sah wieder ihren Blick, der mir so vertraut geworden war. Konnte ich jetzt aus ihren Augen herauszulesen, was sie mir, da ich auch ihr Geheimnis enthüllt hatte, sagen wollte? Ich war in ihrem Blick gefangen, aber wir beide waren älter geworden. Sie hatte mich die ganze Zeit aus ihrem Bild beobachtet und erinntere nun an das kleine Mädchen, während eine erwachsene Frau vor ihr stand.

Ich berührte mit den Fingern die Perlenohrringe, die matt glänzend mir selbst als Schmuck dienten. Diese Perlen hatten ihre eigene kleine Geschichte, dessen Schicksal ich zu mildern versuchte. In einem anderen Leben und einem anderen Jahrhundert waren sie der kostbare Liebesbeweis eines jungen Mannes gewesen, der um die Hand seiner einzig wahren Liebe angehalten hatte, die ihm der Tod kalt und unbarmherzig entrissen und den jungen Mann in den Wahnsinn getrieben hatte. Der Schmuck war im Familienbesitz geblieben und wurde von Tochter zu Tochter als Symbol der Wahrhaftigkeit der Liebe weitervererbt. Nur, daß diese Liebe immer von Vergänglichkeit gezeichnet war. Nun war ich die Trägerin der Perle. Und in dem Moment wurde mir klar, dass sie mich mein ganzes Leben begleiten würde und das meine Geschichte ihre Geschichte war. Die Geschichte von dem Mädchen mit Perle in der Galerie unseres Hauses.


Anmerkungen …

Ich habe diesen Prosatext 2006 geschrieben. Das ist schon ein bißchen her und ich war überrascht, ihn nur ganz gering überarbeiten zu müssen. Er hat sehr lange in der „Schublade“ gelegen. Alles liegt in der Schublade.

Eigentlich ist es ein bißchen wie Fanfiction, die sich auf ein Bild bezieht, wenn ich das mal so auf modernes Schreibertum übertrage. Aus der Ich-Perspektive erzählt, verschwimmen die Grenzen zwischen Fiktion und Fakten. Einige Dinge sind wahr, andere nur erfunden und zusammen vermischen sie sich zu einer neue Geschichte. Aber zu verraten, was nun echt ist, würde doch den Spaß verderben, oder?

Wer mag, kann sich auch die Verfilmung mit Scarlett Johansson und Colin Firth anschauen und dann das Buch lesen.

Chevalier, Tracy: Das Mädchen mit dem Perlenohrring. 17. Aufl. List Verlag 2001.

Inspirationen Schreiben

Über das Schreiben und das Schreib-Ego.

Ich denke viel über das Schreiben nach. Ich denke auf dem Schreiben herum, kaue es, schiebe es von einer Seite auf die andere, schmecke und kaue wieder. Ich schreibe über das Schreiben. Weniger über Technik und Handwerk, als über meine Einstellung dazu. Was ist Schreiben für mich? Wo stehe ich mit meinen Scheiben? Vielleicht liegt es daran, daß ich gerade Neil Gaiman, The View from the cheap seats lese. Seine Texte bescheren mir Leseglück. Er sagt alles, was man dazu sagen kann. Das klingt so absolut. Er wird noch mehr sagen und schreiben. Andere auch. Vielleicht passt Neil Gaiman auch einfach wie die Faust aufs Auge, weil ich mich mit mir und meinem Schreiben auseinandersetze. Da ist es wieder. Ich lese, um Antworten zu finden. Intuitiv, aus dem Bauch. Und es stimmt. Mehr, als mir in dem Moment bewusst war. Ich suche Antworten auf die Frage, warum ich schreibe, was ich zu sagen habe, was ich erzählen will. Und wieder einmal war es der Austausch, der einen Gedanken frei setzte.
Mein Schreib-Ego ist ein »großkopfteter Giftzwerg« , dem ich die Selbstzweifel entgegenhalte.

Die Österreichische Krimiautorin Annie Bürkl verlinkte zu einem Interview mit Christoph Waltz. Wir waren uns einig, dass sein Ansatz für die Schauspielerei wie für das Schreiben gilt: Weitermachen, besser werden, die Mittelmäßigkeit ertragen. Einfach nicht aufhören an sich zu arbeiten, ob es nun einer merkt oder nicht. Und so landete ich gedanklich beim Schreib-Ego. Ich denke, hinter jedem künstlerischen Ausdruck steckt auch ein Ego. Alan Rickmann fällt mir ein, der so bescheiden, so ego-befreit in seinen Interviews sprach, dass es schon wieder arrogant klang. Vielleicht interpretiere ich das auch nur ihn rein? Er kann sich nicht mehr wehren, denn er ist leider verstorben, ganz plötzlich. Ich halte ihn für einen wunderbaren Schauspieler. Und er war viel mehr als nur das. Es gibt Menschen, die sind so voller Güte, so engelsgleich gut, bescheiden und selbstlos. Ich bin das nicht. Ich glaube von mir, eine ganz passable Version Mensch zu sein und ich gebe mir sehr viel Mühe, die beste Version von mir selbst zu sein. Aber ich bin mir sehr deutlich bewußt, wie unvollkommen ich bin, wie unvollkommen mein Schreiben ist.

Extreme sind die Pole, zwischen denen sich die zum Leben notwendige Spannung erzeugt.
Hermann Hesse

Auf das Schreiben übertragen sind der Giftzwerg und die Zweifel die Pole, zwischen denen sich Schreibspannung entwickelt. Ich brauche den Giftzwerg, um dem Punkt zu finden, meine Geschichte loszulassen. Um überhaupt den Mut zu finden, an den Leser heranzutreten, für ein Publikum zu schreiben. Ich brauche den Zweifel, um das passende Wort, den besten Ausdruck, den Weg zu finden, meine Geschichte so erzählen, wie sie erzählt werden muß. Ich brauche den Zweifel, um der beste Autor zu sein, der ich in diesem Moment sein kann. Und ich benötige den Giftzwerg, um mich auf der Suche danach nicht zu verlieren, zu resignieren, aufzugeben.

Ich nenne das Schreib-Ego Giftzwerg, weil ich grundsätzlich und ganz spirituell der Meinung bin, dass das Ego hinderlich und lästig ist. Das Ego sorgt dafür, dass ich mich ganz toll finde, dass ich mich im recht fühle, dass ich mit meinem Allerwertesten im warmen Muspott ( das sagte mein Deutschlehrer, wenn die Klasse nicht in Schweiß kam) sitzen bleibe. Innerer Wachstum, Toleranz, Aufgeschlossenheit und Neugierde, wie soll ich über meinen Schatten springen, meine Grenzen überwinden, wenn mir das Ego wie Kaa, die Schlange, ins Ohr wispert, dass ich das gar nicht nötig hätte. Genau so giftig sind die Selbstzweifel. Das kannst Du nicht. Das haben andere schon gemacht und viel besser. Das liest eh keiner. Was bildest Du Dir überhaupt ein?

Wäre es nicht viel einfacher, wenn ich ohne Giftzwerg und Zweifel schreiben könnte? Wenn ich mir meiner selbst – in aller Bescheidenheit – so sicher sein könnte, dass ich meine Geschichten ohne Druck, ohne Emotion, ohne zwischen den Extremen zu oszilieren, erzähle? Wäre das dann leidenschaftslos und fad? Oder entsteht durch die fragile Verbindung zwischen Ego und Zweifel eine Leidenschaft, die das Schreiben erst möglich macht?

Ich schreibe in diesem Spannungsfeld, bewege mich mal mehr in die eine oder andere Richtung. Das Schreiben führt aus sich heraus zu einer Stabilität, in der ich weiter schreibe, an mir arbeite, besser werde und aus der Mitte heraus wachse.


Annie Bürkl://www.texteundtee.at/

Interview mit Christoph Waltz: https://www.redbulletin.com/at/de/culture/christoph-waltz-es-war-schon-so-frustrierend

Inspirationen Schreiben

Das innere Haus der Bücher

Die Welt wartet nicht. Früher war das anders. Oder ist das nur eine altersbedingte Wahrnehmung? Die Welt dreht sich und die Informationen, die durch den Äther rauschen, erscheinen mir wie die Rücklichter, die im Zeitraffer zu einem namenlosen roten Strom werden. Im Alltag fühle ich mich oft wie ein Blutkörperchen in diesem Fluss gefangen. Ich kann nicht anhalten, nicht aussteigen, mich nicht einmal gegen den Strom bewegen. Monotones vorwärts drängen.

Als Kind erschien mir ein Buch zu lesen als die sinnvollste Möglichkeit zu sein.

Auf dem Boden sitzend an die Heizung gelehnt in dem kleinen Zimmer mit dem Dachfenster. Der Blick nach draußen ohne Grenzen. Der Blick nach innen unendlich. Ich habe auf jeden neuen Band von Lucy Maud Montgomerys „Anne of Green Gables“ gefiebert, die gab es zu Weihnachten und zum Geburtstag. Mit kindlicher Glückseligkeit jede Zeile eingeatmet und jedes Umblättern bedauert, weil die gelesenen Wörter und Sätze nun nicht mehr neu und unberührt auf mich warteten. Ich habe früh Hermann Hesse gelesen. Mit 17. Ist das überhaupt früh? Der Grundstein war ja schon da, aber der Demian hat mit einem Fingerschnipsen das innere Haus erwachen lassen. Nicht zögerlich, nicht zaghaft. Poetisch wie die Morgensonne den Nebel weichen lässt und dort stand es nun.

Eine Freundin hat vor ein paar Jahren eine Schreibübung mit mir gemacht: Das Haus Deiner Kindheit.
Wenn ich mir vorstelle, daß dieses Haus mein Innen ist, dann ist jedes Buch, welches ich lese, ein neuer Raum, der sich für mich öffnet.
Jede Geschichte hat ihre eigenes Mobiliar, ihr eigenes Fenster nach draußen in diesem Drinnen.
Ich kann mich in den Garten setzen, den Strom ausblenden, mich weigern ein braves Blutkörperchen zu sein. Ich kann die Haustür aufstoßen, müde und mit schwindender Kraft und sie entschlossen wieder hinter mir schließen. Ich kann durch dieses Haus wandern und neue und alte Räume erkunden. Längst vergessene kleine Kammern, deren Eingänge sich fast unsichtbar in der Wand verbergen. Ich kann große Räume durch Flügeltüren betreten, die mich mit ledernen Sesseln einladen zu bleiben, in der Erinnerung zu lesen. Ich liebe die Treppen in diesem Haus. Breite, geschwungene Handläufe geleiten mich, schmale, abgetretene Stufen führen mich in immer weiter entfernte Flure, Absätze und Emporen, auf denen man stehen, verweilen, um sich schauen kann.

Manche Korridore sind verlassen, düster, staubig, vergessen von mir. Ganze Hausflügel sind licht und hell, bewohnt von heiter schnatternden Gedanken und Begebenheiten. Die Wörter aus den Büchern, die in diesem Haus leben, huschen durch die Gänge, wispern hinter samtenen Vorhängen, kichern und lachen und necken. Ich kann in diesem inneren Haus der Bücher zur Ruhe kommen, ankommen. Ich brauche keine vorwitzigen Besucher, die Bücher aus den Regalen reißen und sie nicht ordentlich an ihren Platz zurückstellen. Ich kann auf Entdeckungstour gehen, die geflüsterte Einladung annehmen und finde mich in einem Salon mit Louis-seize Stühlen und filigranem Teeporzellan wieder, obwohl ich grad erst die knarrende Dachstiege herunter balancierte.


Ich höre auch das ferne Stöhnen, das unterdrückte Beben der Wände, die den Schmerz zurückhalten. Diese Räume sind gefährlich, denn nichts gehorcht der Wirklichkeit weniger als die Federn, die sich hier selbst in Tinte tauchen und unaufhörlich über das Papier kratzen. Wie kostbarer Nektar bildet sich das Schreibblut, das der Schmerz der Seele entzieht. Die Melodie des Schreibens, das Geräusch verlockt, hypnotisiert und in der schreibenden Stille dieses Labyrinths aus Stuben ist selbst der heitere Saal mit Kindergeschichten so weit entfernt, daß er nicht mehr wahr erscheint. Alles verliert in dem Scharren der Federspitzen seine Bedeutung. Schreiben, unaufhörlich, nicht anhalten im Strom der Tinte Wörter und Sätze aneinander reihen.


Ich lese. Ich lese, um das innere Haus zu ergründen, um einen Moment des Friedens zu finden, einen Weg aus dem Labyrinth. Ich lese, um Räume mit Licht und Wärme zu füllen und die Schreibfedern in Schach zu halten. Ich lese, um Türen zu öffnen, Zimmer zu entdecken. Und ich lese, um Antworten zu finden.

Inspirationen Schreiben

Schreiben

Die Einsamkeit des Schreibens, das ist die Einsamkeit, ohne die Geschriebenes nicht entsteht oder zerbrökelt, blutleer von der Suche, was man noch schreiben könnte.
Marguerite Duras

Es war immer da. Das Schreiben. Manchmal schreibe ich über das Schreiben. Von innen heraus. Keine analytische Betrachtung oder wegweisende Richtlinien, die anderen als Vorgabe dienen könnten. Es ist mehr so, als ob das Schreiben aus sich selbst heraus erzählt. Es ist da. Das Schreiben bricht aus mir heraus. Ergießt sich auf dem Papier. In modernen Zeiten ist es ein Bildschirm. Das ist egal. Es bricht aus.
Das Schreiben hatte eine eigene, eigenständige Persönlichkeit, lange bevor ich Stimmen fand, die den gleichen Klang hatten. Das scheint mir vermessen, denn es beinhaltet einen Vergleich. Wer bin ich schon. Also lange, bevor ich Stimmen fand, denen ich mich nah fühlte, von denen ich glaube, zu verstehen, was sie sagen.
Es ist 1994. Der 17. Oktober. Ich kann mich nicht mehr an diesen Tag erinnern. Da ist nichts mehr. Ich war an diesem Tag in einem Buchladen und habe ein Buch von Marguerite Duras gekauft. »Schreiben«. Es ist die erste Stimme, der ich mich nah fühlte, die ich in mir selbst höre. Ich bin so klein, so winzig, so bedeutungslos.

Es ist das Schreiben. Ich kenne den Wahn. Nein, ich kenne den Schmerz. Die Umkehr von Proportionen, die alles verschlingend groß und riesig erscheinen lassen und einen selbst so winzig. Verloren. Wo? Im Schmerz? Im Schreiben? Der Schmerz ist da. Das Schreiben lacht kalt. Den Schmerz kennen wir. Der macht uns keine Angst. Er ist immer da, wie ein Versprechen. Das Schreiben ist die Dimension, in der ich dem Schmerz entkomme. Für den Augenblick. So lange die Worte in Bewegung sind, so lange die Sätze fließen, hat der Schmerz keinen Platz in diesem Raum. Ohne Worte, ohne das Schreiben ist dort Leere, die durch den Schmerz gefüllt wird. Ich schreibe. Das Schreiben brüllt in mir. Will gehört werden. Von mir, der ich es niedergekämpft, verbannt hatte. Ich hatte mich dem Schmerz hingegeben.

Im betäubenden Rausch des Schmerzes der Wirklichkeit nicht mehr zugänglich. Was ist schon Wirklichkeit. Ist der Schmerz nicht wahrhaftiger als alle Lügen, die gesponnen werden, nur um ihn nicht fühlen zu müssen? Schreiben ist Schmerz und Schmerz ist im Schreiben. Das Schreiben lacht kalt. Das Schreiben hat kein Mitleid mit mir. Ich bin ihm ausgeliefert, wie dem tosenden Schmerz. Wenn ich aufhöre – wenn ich mich nicht mehr dagegen wehre, wenn ich mich dem Schreiben ergebe – fließen die Worte und die Finger eilen über die Tasten und der Schmerz fließt in die Buchstaben und bildet Sätze und Sinn und Ordnung.

Mit dem Schreiben kommt die Ordnung. Die Dinge sind nie in Ordnung. Die Gedanken, die Gefühle sind reines Chaos. Es ist nicht in Ordnung. Das Schreiben sortiert den Wahnsinn, schreiben. Nicht aufhören und nicht fähig, den Worten ihren Schmerz zu entziehen. Schreiben. Sich im Schreiben verlieren und wiederfinden. Ohne das Schreiben bin ich verloren.


Duras, Marguerite: Schreiben. 1. Aufl. Suhrkamp. Frankfurt am Main 1994. S. 8

Inspirationen Textperimente

Mit Murakami in der Badewanne

Mein erster Murakami. Südlich der Grenze, westlich der Sonne. Der Titel, den ich mir ausgesucht habe. Ob es eine gute Wahl war, mit diesem Buch einzusteigen? Ich weiß es nicht und es ist zu spät. Und so, wie Hajime schon als Kind begreift, dass es sinnlos ist, über Dinge nachzudenken, die man nicht beeinflussen kann, deren Verlauf unabänderlich ist, so verhält es sich mit mir und meinem ersten Murakami.
Er ist gelesen und er wird immer mein erster Murakami sein.

Ich wusste nicht wirklich, was mich mit diesem Buch erwartet und ich hatte auch keine Vorstellung, was mich mit Murakami ganz generell erwartet. Aus einer Laune heraus, und sonst mache ich das nicht, legte ich mich zum Lesen in die Badewanne.

In der ersten Übersetzung ( und es muss wohl eine literarisch deprimierende Übersetzung einer noch viel deprimierenderen US-Englischen Übersetzung des Orginals gewesen sein, so las ich zumindest) hieß das Buch noch „Gefährliche Geliebte“. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.

Ich liege nackt in der Badewanne, was an sich schon obszön ist, es zu denken, geschweige denn, es laut auszusprechen. Das mag daran liegen, dass ich dem Körper nicht so viel Bedeutung beimesse. Oder dem Bewusstsein mehr als der Hülle. Ich bin Genussleser. Ich konsumiere Bücher wie, wenn ich es mögen würde, man einen kostbaren Wein trinkt. In Schlucken. (Zwei Spechte … da mopst mich der Hafer und der Harry Rowohlt).

Ein Buch ist eine eigene Persönlichkeit, die sich durch mein Lesen entfaltet und in meinem Lesen Gestalt annimmt.

Das erfordert ein gewisses Maß an Respekt und Leidenschaft. Also gebe ich mich wie eine Geliebte dem Buch hin und trete seiner Geschichte hüllenlos entgegen. Es fühlt sich in der Tat befremdlich an, diese Nacktheit vor dem Buche. Als ob die Seele des Buches aus den Seiten heraus auf mich schauen könnte. Auf den nackten Körper im milchtrüben Wasser in der Badewanne, aus der vanilliger Dampf empor steigt und das Fenster beschlagen lässt.

Der Anfang gefällt mir gut und das murakamische Schreiben kommt meiner Art in Prosa zu denken entgegen. Sex interessiert mich nicht. Und mit dem alten Titel hätte ich die Sache vermutlich erst gar nicht in die Hand genommen. Südlich der Grenze, westlich der Sonne impliziert, dass da mehr ist, als das Problem, was eine Geliebte handelsüblich eben so mit sich bringt. Der Sex in diesem Buch hält sich in Grenzen. Ich empfinde ihn als steril, als teils erstaunte Beobachtung von Reaktionen von Körpern. Und das lässt sich gut aushalten. Im Gegensatz dazu ist das Empfinden von Hajime ganz und gar nicht steril. Ich glaube, ich verstehe ihn ganz gut. Also schlage ich mich auf seine Seite. Trotz Izumi. Oder vielleicht auch gerade weil ich mich nicht in sie hineinfühlen muss.

Der Schmerz ist greifbar.

Und Schmerz ist mein Thema. Es ist mir egal, ob es um das schmerzhafte Lieben von Shimamoto geht, um das schmerzhafte innere Sterben von Izumi. Ich lese den Schmerz aus den Seiten heraus. Und er trifft mich schutzlos. Die Geschichte umfließt mich und ich vergesse den Raum und den nackten Körper und das kalte Wasser und das beschlagene Fenster.

Ich hadere mit Murakami wegen Yukiko. Der Schmerz ist da, aber sie ist wie eine Randfigur, ein nicht richtig passen wollendes Teilchen in diesem Dreigestirn aus Schmerz, den Hajime mit Izumi und Shimamoto teilt. Und ich verstehe Hajime nicht. Er liebt und liebt nicht und dann wieder doch und mit Yukiko ist es ja auch alles sehr praktisch und überschaubar und berechenbar.
Es gibt Liebe, die nicht dazu gedacht ist, gelebt zu werden, weil sie zerstört.

Und es gibt Liebe, die gelebt werden kann, die nicht diese zerstörerische Kraft hat und die grundsolide ist und wunderbar und alles, was man sich nur wünschen kann. Die zerstörerische Liebe ist wie eine Droge, und einmal gekostet, gibt es kein Zurück, genauso wenig wie es kein Entrinnen gibt vom Schmerz und keine Heilung.

Der Schmerz aus dem Buch perlt wie Wassertropfen vom Knie den Schenkel herunter, der aus dem trüben Wasser ragt. Der Schmerz ist das Wasser und das Leben. Fluch und Segen zugleich wie das Fruchtwasser, in dem das Ungeborene gedeiht, lässt es mich mit der letzten Seite zurück.
Das nackte Lesen. Murakami und ich. In einer Badewanne.


Haruki Murakami; Südlich der Grenze, westlich der Sonne. 1.Aufl. 2015. btb Verlag, Gruppe Randomhouse. München. 224 S.

Inspirationen Schreiben Textperimente

Mit Hemingway am Strand

Das Einzige, was Dir den Tag verderben konnte, waren Menschen, und wenn Du Verabredungen aus dem Weg gehen konntest, waren die Tage grenzenlos.
Ernest Hemingway

Ich war zum Schreiben gekommen und jetzt sind meine Beine sandig und ich kann das Notizheft nicht ablegen. Ich kann auch nicht schreiben, denn der Wind hat meine Finger kalt und steif gepustet. Ich sitze im Sand, der kühl und leicht feucht ist, in Erwartung der kommenden Flut. Das Rauschen der Wellen geht im Wind unter, vermischt sich zu einem Strom von Wasser und Wind, der überall ist, ohne Grenze, ohne Anfang, ohne Ende … ohne Bestimmung.

Also lese ich.

Meine klammen Finger halten das Buch und der salzige Wind frisst sich in die Buchseiten. Ich könnte mir vorstellen, dass ein Herr, wohlgemerkt ein Gentleman, am Strand entlang spaziert. Er würde einen hellen Leinenanzug tragen und einen Hut und vielleicht würde der Gentleman sogar Phantasie und Wagemut zu seinen Charaktereigenschaften zählen, was er natürlich gut verstecken könnte, und wegen der Phantasie würde er seine Budapester ausziehen und mit nackten Füßen durch den Sand gehen.
Er würde grüßen, denn sowas tut ein Gentleman und sich höflich nach meiner Lektüre erkundigen. Ich könnte also antworten:« Hemingway. Ich lese Hemingway.« Und damit wäre alles gesagt. Dann könnte ich gedankenverloren auf das Meer schauen und mich fragen, ob ich ein guter Schreiber bin. Ob ich Hemingway als Vorbild nacheifern sollte, ob das überhaupt möglich ist oder von vorne herein zum Scheitern verurteilt. Der Gentleman würde seinen Hut ziehen und mir noch einen schönen Tag wünschen und seinen Spaziergang fortsetzen und ich wäre wieder allein. Mit mir und dem Schreiben und dem Buch und Hemingway.


Es ist nur ein Gedanke. Alles ist Gedanke.

Ich sitze am Strand und ich will gar nicht, dass dieser Moment, dieses Sein im salzigen Strom aufhört. Mir ist absolut klar, dass ich später aufbrechen muss, zurück gehen, bevor mich die Flut verschluckt, bevor der Tag der Dunkelheit weicht. In diesem Moment ist das Sein aufgelöst und Teil des Meeres … der Luft. In diesem Moment bin ich und bin nicht. Es gibt keine Grenze zwischen den Gedanken und dem Schreiben, so wie es keine Grenze zwischen den Wassertropfen im Meer gibt und keine Grenze zwischen dem Meer und dem Horizont. Ich bin grenzenlos, im Sein … im Schreiben.
Ich weiß, dass ich zurück muss und das macht mich traurig. Die Traurigkeit zerstört das Sein und den Moment und das Eins. Und so weiß ich nicht, ob ich jetzt schon gehen soll, damit ich beim Gehen die Traurigkeit überwinde oder ob ich verweile. Aber jetzt bin ich traurig, weil der Abschied vom Strand naht und das hat das Glück über den Tag am Strand genommen. Warum also das Unglück noch länger hinauszögern und sich dem Unvermeidlichen fügen?

Ich könnte zurück gehen und einen Kaffee trinken. Das wäre ein neues Glück und da es auch ein alltägliches Glück ist, wäre ich nicht so traurig, wenn auch dieses Glück wieder endet. Alles Glück endet und verrinnt wie das Meer in den Furchen, die sich mit den Wellen in den Sand graben. Das Glück endet in dem kurzen Moment, im Innehalten und der Erkenntnis dessen Endlichkeit. Es ist wie ein kurzer Tod im größten Empfinden der Freude.
Man darf sich von der Traurigkeit aber auch nicht überrumpeln lassen, denn sonst dürfte man erst gar nicht an den Strand gehen und würde sich von vornherein des größten Glücks berauben. Man muss den Schmerz einkalkulieren und den richtigen Moment zum Abschied finden, bevor die Traurigkeit zu groß wird und das Glück verschlingt wie die Wellen den Sand mit den aufkommenen Gezeiten und man leblos und starr vor Traurigkeit liegen bleibt, unfähig, durch den Schmerz einem neuen Glück entgegen zu gehen.

So ist das. Im Leben und am Strand.


Hemingway, Ernest: Paris, Ein Fest fürs Leben. 10. Auflg. Rowohlt Taschenbuch Verlag. Reinbeck bei Hamburg 2016. S. 41.

Rezension

Crossroads

Ein Inspektor Norcott Krimi von Jürgen Albers

Es gibt Geschichten, die verdienen eine besondere Leseumgebung. In diesem Fall geht es um den Krimi ‚Crossroads‘ von Jürgen Albers. Wir schreiben das Jahr 1940. Der britische Chief Inspector Charles Norcott hadert mit dem Tod seiner Frau, was auch berufliche Spuren hinterlässt und so kann er wenig dagegen tun, auf einen Posten auf die Kanalinsel Jersey weggelobt zu werden.

Die Kanalinseln verbinden die gute englische Tradition mit französischem Flair, einer üppigen Bilderbuchvegetation, bedingt durch den warmen Golfstrom und die Nähe zu Frankreich. Fischerboote, die in der glitzernden See dümpeln, emsiges Treiben am Hafen, Touristen, Märkte. So idyllisch diese Aussicht, so schnell ist die Illusion vorbei.
Eine junge Frau wird auf der Nachbarinsel Guernsey ermordert, die Deutschen Truppen halten Frankreich besetzt und die kleine Inselgruppe wird zum Dreh- und Angelpunkt unterschiedlicher staatlicher Interessen. Die britische Armee zieht sich zurück, dafür kommen die Deutschen. Ein Großteil der Bevölkerung flieht, die Zurückgeblieben versuchen aus der völligen Isolation und Abgeschnittenheit das Beste zu machen. Norcott ermittelt nun auf Guernsey und wächst mit diesem neuen Team aus zusammen, findet Freunde und Unterstützung an Stellen, wo er es nicht vermutet hätte.

Ich denke, der Reiz der Kanalsinseln Guernsey besteht aus der Mischung eines friedlichen Fleckchenen Erdes mit mediterranem Klimabedingungen, weit weg vom Festland und den alltäglichen Unbillen, verbunden mit einer touristisch ausgerichteten romantischen Erwartungshaltung an das Leben dort. Nicht umsonst hat auch der französische Schriftsteller Victor Hugo Guernsey zu seinem Exil erkoren. Als Schauplatz für einen Kriminalroman, eingebettet in einen Historischen Kontext, entsteht eine ganz natürliche Kammerspielatmosphäre, die für Spannung und Dichte sorgt.

»Aber es war eine trügerische Ferne und diese Illusion war das erste Opfer der deutschen Invasion gewesen.« (S.313)

Albers hangelt sich nicht einfach von Ereignis zu Ereignis, er zeichnet ein ganz lebendiges Bild der Zeit und der Menschen auf dieser Insel. Und wie in einem Kammerspiel liegt der Fokus auf der psychologischen Dramaturgie. Norcott ist ebenso einfühlsam, wie getrieben in seiner Arbeit als Polizeiermittler. Vielleicht sogar ein Stück zu sehr bemüht, ein anständiger Kerl zu sein, wenngleich angedeutet wird, dass er in Vergangenheit nicht sehr zimperlich mit seinen Mitmenschen umgegangen ist. Die politische Lage, die Bedrohung durch die deutsche Invasion spiegelt Norcotts Innenleben. Und ich gehe so weit zu sagen, dass die durch die äußerlichen Umstände hervorgerufene Gefühlslage Norcotts unterdrückten Gefühle entspricht.

»Norcott stand wortlos a Fenster seines Büros und sog die bedrückende Stimmung in sich auf, ließ sich ganz auf sie ein. Er wollte Trauer und Hoffnungslosigkeit tief in seinem Fühlen verankern. Sie würden Verbündete sein gegen William Henley.« (S.126)

Seine Kollegen, ich sage mal salopp, ein Haufen eingeschworener Dorfpolizisten, die bei diesem Mord zu Höchstform auflaufen und doch jeder von ihnen ganz individuelle Züge trägt.
Für frischen Wind sorgt Vicky Rhys-Lynch, die die Ermittlungen unterstützt, aber auch auf der privaten Ebene Norcott die Möglichkeit gibt, sich mit seiner Vergangenheit und seiner Zukunft auseinander zu setzen.

»Offen gesagt, Chief Inspector, ein Kaffee wäre mir lieber. Ich konnte mit Tee noch nie etwas anfangen. Sehr unbritisch, in der Tat.« (S.41)

Dieses Zitat ist ebenso ein Beispiel, wie Albers subtil britischen Sprachgebrauch einpflicht. In der Übersetzung hieße es dann very british: »Very unbritish, indeed.« Aber auch die Satzstellung ist mir an einigen Stellen aufgefallen, die mich mehr an die britische Grammatik erinnert.
Spannend die Fährten, die Albers rund um einen Mord auslegt, der nicht der einzige bleiben wird. Der Witwer des Mordopfers Nora Henley ist so glatt, so wenig berechenbar, dass wir als Leser nicht sicher sind, ob wir ihm alles zutrauen sollen oder sogar müssen.

Einen Einblick in Henley bekommen wir erst spät in der Geschichte und im Zusammenhang mit der die Protagonisten nervenden Vermieterinder Hernleys, Mrs. Dobbs, deren inszenierte Darstellung ihrer Selbst natürlich nicht nur Fragen bei Norcott und seinem Team aufwirft, sondern auch den Leser aufhorchen lässt.
Henley vergleicht Mrs. Dobbs und seine Beziehung zur mit einer Qualle, deren giftige Tentakeln sich um ihn schlingen. Eine wunderbar unverbrauchte Metapher, die umso mehr Gewicht bekommt, da wir bis dahin keinen Einblick in das Gefühlsleben Henleys bekommen.

»Sie war wie eine von den seltenen Riesenquallen, die in sehr heißen Sommern manchmal an den Strand gespült wurden – schwammig, weich … fast unsichtbar warfen sie ihre Nesselfäden um ihre Opfer. Henley hatte einmal so eine Qualle gesehen, in deren giftigen Fäden noch ein halbverdauter Fisch hing … ein ekelhafter Anblick war das gewesen.« (S.317)

Die Ermittlungen im Mordfall Henley dehnen sich bis nach Frankreich aus und hier verweben sich nun historische Geschichte, Figuren und Handlungsstränge. Die deutschen Besatzer sind nicht nur braune Masse, sondern sorgsam differenzierte Charaktere, die der Handlung ebenfalls zu mehr Tiefe verhelfen. In Kombination mit den französischen Kollegen, die wie der Zitronensaft auf der Auster für mehr Würze – und auch Humor – sorgen, ist das Ermittlungsteam losgelöst von politischen Interessen ausschließlich an der Lösung des Falls interessiert und kann sich doch nicht aus den Fängen der Kriegsereignisse und deren Konsequenzen lösen.

»Mit einem elegantem Schwung steckte sich Grignard die Serviette in seinen Uniformkragen und behielt sein stilles Lächeln. Er kostete ausgiebig die Suppe, dann legte er den Löffel beiseite. »Sie haben wieder recht, Chief Inspector.« Er nahm noch einen Löffel voll Suppe, als wenn er seine Meinung noch einmal überprüfen wollte und genoss die aufmerksamen Blicke seiner drei Kollegen.
»Was? Ach Sie wollen wissen …?«
Norcott hätte den Franzosen gern ein wenig geschüttelt, aber er beherrschte sich.
»Jaaa!«

Auch die Nebenhandlung, die kleinen alltäglichen und auch kriegsbedingten Probleme der Bewohner, der Alltag jenseits der Touristenidylle, die falschen Fährten, die Albers legt, ergänzen nicht nur die Haupthandlung, sondern sorgen für eben dieses lebendige Bild und erzählerische Dichte.

Crossroads ist ein grundsolide erarbeiteter Kriminalroman, welcher sich exzellent bei einer Tasse Tee genießen lässt und auch so genossen werden sollte. Ich möchte aber auch noch ein Wort zum Umschlag sagen, denn Tina Köpke hat ein ausnehmend gut gestaltetes Cover entworfen, welches der Geschichte einen würdigen Rahmen verleiht, damit noch einmal die Professionalität des Buches unterstreicht und den Qualitätsstandard im Bereich Selfpublishing demonstriert.


Ich bin nun sehr gespannt auf den Folgeroman »Erased« und freue mich auf ein neues Lesevergnügen.

Inspirationen Schreiben

Das Schreibzimmer

In diesem Beitrag geht es mal nicht um die Frage „Wie schreib ich’s?“, sondern wo. „Das Schreibzimmer“ ist Thema der Blogparade von Ricarda von schreibsuechtig.de, die vom 16. Juni bis 31. Juli 2017 läuft.

Wie alles begann

Als Studentin spielte sich mein Leben und Schreiben auf 24 Quadratmetern ab. Das war meine Winzwohnung, die zugleich Küche, Wohnzimmer, Schlafzimmer, Arbeitszimmer war. Ein Kokon, aus dem ich nicht raus musste. Das gefällt mir. Eine Schreibblase.

Meine ersten offiziellen Texte habe ich in einem kleinen Büro geschrieben, die Tür stand auf und im Hintergrund wuselten Kollegen herum, kamen rein, kramten in Regalen und Ordnern, klingelte das Telefon. Das hat mich nicht weiter gestört. Ich habe auf den Bildschirm gestarrt, war ganz bei mir und meinem Text. Ein Schreibzimmer ist trotzdem etwas anderes.

Später habe ich in einer Agentur gearbeitet, die die Philosophie vertrat, wahre Kreativität käme nur durch Ausblenden aller, also wirklich aller Ablenkungen. Ein weißes Zimmer mit klinischen Möbeln, reduziert auf Tisch und Stuhl. So generell ist der Ansatz gut, denn zu viel Ablenkung lenkt wirklich ab. Das war dann ein Schreibzimmer oder Kreativzimmer. Aber zwischen den Extremen gibt es auch noch Leben.

Im Homeoffice

Das erste eigene Schreibzimmer war ein gemütliches Büro, gemütlich im Sinne von: angenehme Atmosphäre, aufgeräumt, übersichtlich. Ich konnte dort gut arbeiten. Generell kann ich meine Umgebung gut ausblenden. Deswegen schrieb ich Eve auch am Eßtisch mit der Familie, von wegen der Gesellschaft. So ganz im Schreibzimmer isoliert ist auf Dauer auch nicht gut.

Dann haben wir Zimmer getauscht und ich hatte kein Schreibzimmer mehr. Das hat mich jetzt auch nicht wirklich gestört. Ich habe in meiner Lieblingsecke auf dem Sofa geschrieben. Vor zwei Jahren haben wir wieder Zimmer umfunktioniert und ich konnte ein kleines Zimmer mit Dachschräge und Blick auf die Flensburger Förde zum Schreibzimmer umrenovieren. Ein kleiner Rückzugsort von dem ich erwarte, dass er tadellos aufgeräumt ist. Krempel und Kram kann ich weniger gut ausblenden.

Was ich nicht erwartet habe, dass es mir so gut gefällt. Dieser Raum lässt mir eine Wahl und bietet Ruhe. Ich kann die Tür im wahrsten Sinne des Wortes hinter mir zumachen. Der entscheidende Punkt ist, ich habe die Wahl. Der große Eßtisch, die gemütliche Sofaecke oder totaler Rückzug. Und das empfinde ich als Luxus.

Schreiben in Cafés

Natürlich habe ich Natalie Goldberg gelesen und wieder einmal muss ich meiner Seelenschwester Caroline für diese Inspiration danken, denn sie hat mir das Buch geschenkt. Ich habe es versucht, aber der Gedanke, von anderen, fremden Menschen beim Schreiben beobachtet zu werden, macht mich nervös. Der Lärm, die Bewegung, das alles macht mich rappelig und ich kann mich nicht konzentrieren. Ich bin lieber allein. Der Kokon …

Das Schreiben findet im Kopf statt.

Und während ich über diesen Beitrag nachdenke, sitze ich im Garten und schaue auf weiße Hortensien. Es ist abend, die Sonne ist untergegangen, es ist warm und eine leichte Brise weht von der Förde herüber. Ich mag meinen Garten. Außer ein paar Vögeln ist nichts zu hören. Es ist leise. Na gut, die Amseln sind ein renitent lautes Völkchen. Zumindest die, die bei uns leben. Mein Blick stromert von den Hortensien zu den Hainbuchen, ich nehme den Duft der Kletterhortensien wahr, die Rosen, die gezackten Blätter der Fetthenne, das leise Plätschern des Quellsteins. Der Garten ist wie ein eigenes, grünes Zimmer und ich denke, dass man nicht nur und unbedingt Schreibzimmer braucht oder über sie nachdenken kann, sondern über Denkräume.

Mein Garten ist ein Denkraum.

Er ist ruhig und still, unbewegt. Es ist kein lauter Garten, im Gegenteil. Ich empfinde ihn als ablenkungsfrei. Er ist meditativ und bietet mir die Möglichkeit, meine Gedanken zu sortieren, in den Hirnwindungen zu spazieren und neue Ideen zu entwickeln. Ich sitze auf dem Gartensofa unter einem Sonnenschirm und empfinde Glück und meinen Garten als poetisch, als schöpferischen Quell. Das Ich verschmilzt mit dem Grün, der Garten und ich sind eins. Der Denkraum ist überall, in mir, um mich herum, ich bin weit und still und voller Möglichkeiten.

Mit dem Schreibzimmer ist das nicht ganz so. Mein Blick geht in die Ferne, die Förde, die in diesen Minuten in einem gewittrigen Grau verschwindet. Auch die Küste Dänemarks mit dem Wald und der Straße, die sich am Ufer nach Krusau entlang schlängelt, liegt verborgen hinter Nebel und Regen. Die Tropfen fallen pochend auf das Dachfenster. Ich brauche Weite, die Möglichkeit, den Blick wandern zu lassen, damit ich gleichzeitig den Raum in meinen Gedanken betreten kann.

Bei Schreibzimmer und Denkräumen war ich gedanklich schon einmal. Eigentlich hieß die Aufgabe ‚Warum ich lese‘, aber irgendwie wollte es bei mir mehr ein ‚Warum ich schreibe‘ sein. Die Gedanken sind also nicht neu, aber durch die Frage nach dem Schreibzimmer, nach dem Wirken der Frage ‚Warum ich lese‘ verdichtet sich das Wissen darum, was mir wichtig ist, wie ich dazu stehe, wo ich mit dem Schreiben und den Gedanken hin will. Ich muss mir meine Position erarbeiten, den Gedanken schärfen, die Wahrnehmung durch unterschiedliche Perspektiven prüfen.

Denkraum versus Schreibraum

Ohne den Denkraum kann ich nicht schreiben. Der Schreibraum als realer Ort, das Schreibzimmer, ist für mich nicht ganz so entscheidend. Denkräume führen zu inneren Schreibräumen und ohne die gäbe es nicht einen einzigen Gedanken, der auf dem Papier landen könnte.