Der Autor in Zeiten der Cólera
Die Frage nach der Verantwortung des Autors und der Literatur
Wie die letzten Jahre auch war ich als Fachbesucher für die Leipziger Buchmesse akkreditiert, die eine ganz besondere Atmosphäre vermittelt. Dieses Jahr war ich nicht dort. Aufgrund der Pandemie musste die Buchmesse abgesagt werden, ebenso Lesungen, Autorenfort- und Weiterbildungen, Literaturcamps – also Literatur- und Kulturveranstaltungen jeglicher Art.
Die Literaturbranche hat reagiert und kreative Alternativen und Kompensationsstrategien entwickelt, die vor allem über Social Media Kanäle transportiert wurden und einen intensiven Austausch ermöglichten. Dabei ging es auch um die finanzielle Situation von AutorInnen, von Künstlern und der Frage, ob Kultur, ob Kunst und damit auch Literatur systemrelevant sei.
In diesem Zusammenhang möchte ich ein Plädoyer für Literatur als systemrelevantes Kulturgut halten. Und ich möchte dies mit der Frage nach der Verantwortung des Autors, der Autorin untersuchen und in Beziehung zum Werk setzen.
Der Vortrag gliedert sich in drei Teile. Im ersten Abschnitt werde ich den Begriff Autor im literaturtheoretischen Diskurs vorstellen. Damit schaffe ich eine Voraussetzung dafür, im zweiten Abschnitt zu klären, was mit Verantwortung bezogen auf Literatur und den Autor gemeint sein kann. Dabei werde ich mich besonders auf Jean Paul Sartre und seine Überlegungen in „Was ist Literatur“ beziehen.
Im dritten Abschnitt möchte ich anhand literaturphilosophischer Überlegungen, gespeist aus den Arbeiten Martha Nussbaums zeigen, dass Literatur als Kulturgut aus sich heraus bereits eine Verantwortung darstellt, die sich in unterschiedlichen Qualitäten expliziert.
AutorIn … welche AutorIn?
Kein Text ohne Autor. Ich beginne also mit der Frage, was ist ein Autor?
Roland Barthes poststrukturalistische Proklamation des „Tod des Autors“ wurde durch Fotis Jannidis mit „Die Rückkehr des Autors“ in einem neuen Diskurs wiederbelebt. Allerdings ist auch das schon wieder 21 Jahre her. Kernproblematik ist dabei der scheinbar fehlende common ground von Hermeneutik und Diskursanalyse, der die Geister scheidet.
Die Frage nach der Autorschaft bleibt aktuell. Gerade durch die Erweiterung von Betätigungsfeldern im Bereich Medien und so ist es nicht verwunderlich, dass eine neue Generation von Literaturwissenschaftlern und Literaturtheoretikern die ganze Sache kreativ, frisch und ohne akademische Altlasten angeht, wie es der Band „Literaturtheorie nach 2001“ aus dem Matthes&Seitz Verlag zeigt.
Trotzdem müssen wir uns für die Frage nach der Verantwortung zuvor auf eine grobe Verortung des Begriffs Autor einigen, wenngleich diese nur zu Hilfszwecken dienlich sein kann.
Die Rolle des Autors definiert sich über die Funktion seines Werkes. Innerhalb der mündlichen Überlieferung gab es gar keinen Autor, mit der Entdeckung des Menschen in seiner emotionalen Verfasstheit in der Renaissance kam dem Autor ein Bildungsauftrag zu, Werther berührte, Frau Bovarie empörte, „Das obszöne Werk“ verstörte und Anna, Du Geliebte meiner 27 Sinne, würdest Du auf 140 Zeichen reduziert Autorenrechte besitzen?
Wenn „Autor sein“ eine funktionsgebundene Rolle ist, dann muss die Frage also lauten: Wer ist der Autor? Der Autor ist eine reale Person mit einer realen Biografie. Der Autor ist ein Produzent, der sowohl in eigenem, als auch fremden Auftrag Text produziert. Innerhalb seines Schaffensprozesses muss der Autor nach Harold Bloom seine schreibsozilisatorische Herkunft überwinden, um zur eigenen Sprache zu finden. Er ist also vorläufiges Endglied eines literarischen Stammbaums, der – wenn man so will – bis in die Antike zurückreicht.
Er ist ein fiktiver Autor, ein Bild, welches der Leser konstruiert, welches der Autor als Selbstinszenierung konstruiert. Der Autor ist real und künstlich. Er ist der Autor, der am Tisch sitzt und mit den Fingern auf Tasten tippt, um Sätze auf einem Bildschirm entstehen zu lassen. Er ist das Photo auf der Rückseite des Buches und er ist der Typ auf dem Sofa mit Elke Heidenreich. Das bedeutet, dass Autor sein eine Form ist, die unterschiedliche Bedeutungen haben kann. Und das bedeutet auch, dass die Sprache des Werkes, Haltungen und Meinungen nicht zwangsläufig identisch mit Haltungen und Meinungen und der Sprache des Privatmenschen sind. Er ist Erzähler und erzählendes Subjekt im Werk, so er denn so schreibt. Kann er sich aus seiner Zeit herausschälen, das heißt, ist er frei zu schreiben, was und wie es ihm gefällt oder bewegt er sich innerhalb eines literarischen Resonanzfeldes, welches er bestätigt, indem er es negiert?
Ist der Autor ein anderer Autor, als die AutorIn. Das heißt, schreiben beide in derselben literarischen Sprache, bewegen sie sich im selben Literaturresonanzfeld? Können sie das überhaupt oder muss die AutoIn bereits einen Assimilationsprozess durchmachen, um schreiben zu können, um gelesen zu werden? Kann sie frei schreiben und woher weiß sie, dass sie frei ist in ihrem Schreiben. Die Frage nach dem Autor wirft mehr neue Fragen auf, als dass sie Antworten bereit hält.
Einigen wir uns für die Zeit dieses Vortrages auf folgende Position:
Wir haben eine AutoIn, die nach einem erfolgreichen Prozess der eigenen Sprachfindung ein Werk produziert, in dem sie reale und/oder fiktionale Geschichten erzählt, die wiederum auf einer Metaebene Werte, Normen, Haltungen und Meinungen transportieren. Diese können bewusst und intentional sein, aber auch unbewusst in den Text eingeschrieben, in seine Sprache eingeprägt sein. Die Unbewussten sind der realen Person zuzuordnen, da sie keine Kontrolle über diese hat. Die im Werk verhandelten Konflikte und Prozesse, die Werte und Haltungen bedingen, spiegeln und auslösen, müssen nicht zwangsläufig der realen Person als Privatmensch zugeordnet werden, da sie intentional und bewusst sind und somit der Kontrolle des Autors unterliegen.
Die Tatsache, dass jedes Werk, jede Geschichte eine Metaebene hat, in Form von Diskurs und Histoire und auf der Schreibebene ganz praktisch in Form von Plot, Handlung, Motiv und Konflikt ausgedrückt, gibt dem Autor ein Machtinstrument in die Hand. Macht über den Leser.
Und dies führt zum zweiten Abschnitt und der Frage der Verantwortung.
Macht bedeutet Verantwortung
Was macht der Autor nun mit dieser Macht? Die erste Pflicht und Verantwortung der AutorIn, die sich aus der Macht über den Leser heraus ergibt, so scheint mir, ist die, die Zeit ihrer Leser nicht zu verschwenden.
Das macht die Frage der Verantwortung komplizierter. Denn nun hängt das Gelingen der Einhaltung der Verantwortung des Autors vom Leser ab. Der Autor schreibt jedoch für einen ideellen und damit fiktiven Leser, dessen Leseerwartung mit dem Werk korreliert. In diesem Kontext lässt sich Verantwortung als die Treue des Autors zu seinem Werk, resp. seiner Epoche, seines Genres begreifen, wie es Foucault und andere erarbeitet haben.
Man kann die AutorIn als einen semiotisch geladenen Code verstehen, der fortlaufend mit dem Werk bestätigt wird. Als Leser muss ich mich auf den Code verlassen, um den Text zu verstehen. Codebrüche können neue Diskurse anstoßen, auf alte verweisen, sie können angenommen werden oder unterdrückt werden, wo sie Tabus brechen.
Das Tabu ist übrigens eine Schnittstelle, an der George Bataille ansetzt, der von der Literatur fordert, das Tabu zu brechen, wo die Gesellschaft in diesem gefangen ist. Literatur befreit somit von sozialen Praxen der Unterdrückung.
Freiheit und Befreiung finden wir als zentrales Motiv bei Sartre in „Was ist Literatur“.
J.P. Sartre
Und die Literatur, die ihn befreit, ist eine abstrakte Funktion und ein apriorisches Vermögen der Menschenatur, sie ist die Bewegung, durch die der Mensch sich in jedem Augenblick von der Geschichte freimacht; mit einen Wort, es ist die Ausübung der Freiheit.“
Sartre bezeichnet das „Sujet der Literatur“ als den Menschen in seiner Welt. Daraus ergibt sich für ihn Aufgabe und Verantwortung: Die AutorIn schreibt für den Menschen über den Menschen und würde damit, so Sartre, im Gelingen die Antinomie zwischen lyrischer Subjektivität und objektivem Zeugnis überwinden.
Ich habe von Macht über den Leser gesprochen und genau diese Macht verortet Sartre im Vermögen des Textes seinen Leser zu berühren. Darin besteht die Verantwortung: im Bruch mit der Geschichte, in der Befreiung aus der Geschichte durch die Wahrheit. Den Wahrheitsanspruch lese ich aus Sartres Begriff der „totalen Literatur“, den Sartre aus einer Synthese aus „Tun, Haben und Sein“, aus „Negativität und Konstruktion“ in der Literatur ableitet.
Literatur soll wahr und berührend sein und damit befreiend. Schreiben ist gelebte Freiheit. An anderer Stelle sagt Satre, dass ein freier Autor nicht ohne freien Leser sein kann, da der ja erst den Text im Lesen befreit. Das scheint mir eine Frage nach der Sprache zu berühren. Der russische Strukturalist alter Schule Jurij Lotman spricht vom Autor, der dem Leser via Sprache sein eigenes Denken aufzwängt. Das kann aber nur gelingen, wenn die Sprache der AutorIn vom Leser übersetzt werden kann oder sie direkt genügend Gemeinsamkeiten aufweist.
Die von der AutorIn gewählte Sprache muss also passend zum Leser ausgewählt werden oder sich ihm gegenüber zumindest offen gestalten. Sie muss sich, im Falle des Tabubruches gegen eine Zensur behaupten, will die AutorIn nicht ihre physische und schreibende Freiheit aufs Spiel setzen. Oder aber, die AutorIn opfert die reale Person für die Freiheit der AutorIn, die Wahrheit schreiben zu dürfen und liefert sich damit dem politischen System aus, wo Freiheit keine echte Freiheit ist.
Daraus leite ich drei Ebenen der Verantwortung der AutorIn ab: eine sprachliche Ebene, eine inhaltlichen Ebene und eine Verantwortung sich selbst gegenüber, die zusammen erst die Verantwortung gegenüber dem Leser beantworten können.
Literatur und Gefühl
Das Verständnis darüber, wie wir mit Sprache umgehen, wie wir sie benutzen und mit ihr spielen führt zur ästhetischen Erfahrung – ihrer Poezität – von Sprache und Literatur, die sich in Form von Poetik und Rhetorik untersuchen lässt.
Um nun zu untersuchen, inwieweit Literatur systemrelevant sei, bieten sich zwei Ansätze an. Einmal der philosophische Ansatz mit Überlegungen von Martha Nussbaum zur Empathie und deren Rolle in der Literatur, um ein ethisches Selbstverständnis zu befördern, was Voraussetzung für ihr Modell des guten Lebens darstellt.
Der zweite Ansatz ist ein literaturpädagogischer, der sich organisch aus den philosophischen Überlegungen ableitet.
Ich beginne mit der Philosophie und den Überlegungen Martha Nussbaums.
Ethik als zentrales Moment der Konstitution einer Gesellschaft erfordert Haltungen, die die jeweiligen Bedürfnisse der Menschen innerhalb dieser Gesellschaft berücksichtigt. Diese Haltungen werden und wurden schon in der Antike in der Literatur verhandelt, in der von den Ängsten und Hoffnungen des Menschen erzählt wird. Literatur verhandelt Emotionen intra- und extradiegetisch. Der Leser liest also über Gefühle, erlebt Gefühle in der Geschichte und fühlt selbst durch die Geschichte.
Die Identifikation mit den Charakteren, Mitgefühl, Mitleiden, aber auch Ablehnung zwingen den Leser in eine aktive Rolle.
Er wird Teil der Geschichte und ebenso, wie der Autor als Richter über seine Figuren zeugt, wird der Leser zum Richter und positioniert sich über sein moralisches Verständnis. Das dies herausgefordert werden kann und muss, zeigt sich in jeder Epoche auf andere Art und Weise. Während der Naturalismus den Finger auf die Wunde der gesellschaftlichen Ordnung legt, verlegt der Surrealismus den Blick gänzlich in ein transzendentales Innere in der Auflösung konventioneller semantischer Strukturen in der Kunst. Ethik und darin eingebunden Moral sind also die entscheidenden Elemente, durch die Autor, Geschichte und Leser in einen Diskurs eintreten und durch sie verbunden sind.
Diesen Gedanken greift die Literaturpädagogik auf, wenn sie in ihren Zielen formuliert, dass Literatur einen Lebensbezug, ein Probe-Handeln beim Leser evozieren soll, in der der Leser in unterschiedlichen imaginären Rollen Haltungen und Entscheidungsmöglichkeiten erproben kann.
Auch die ästhetische Erfahrung findet so auf drei Ebenen statt: der sprachlichen Ebene mit einer gelungenen Poetik, einer inhaltlichen Ästhetik, die einen Lebensbezug zum Leser herstellt und einer emotionalen Ästhetik, in der die Literatur auf den Leser einwirkt und somit in ihm wirkt.
Die Aufgabe der AutorIn
Die Zeit des Lesers nicht zu verschwenden, das war mein erster Gedanke, als es um die Pflicht und die Verantwortung der AutorIn ging. Wenn es der AutorIn gelingt, ein Werk zu schaffen, welches seine Leser berührt, in dessen Sprache er sich wiederfindet, welches zu einer Haltung herausfordert, dann ist das Unterfangen geglückt. In den Worten von James Baldwin:
An Artist is a sort of emotional or spiritual historian. His role is to make you realize the doom and glory of knowing who you are and what your are.
James Baldwin
Und in diesem Herausfordern liegt ein Bildungsgedanke zugrunde, wie ihn Aristoteles in seiner Poetik formulierte, wie ihn der Humanismus neu interpretierte. Ein reflektorischer Prozess, aber auch eine Verantwortung als Erwartung an den Leser, sich zu bilden, sich dem Erfahrungsprozess Literatur hinzugeben, Haltung zu beziehen.
Und vor allem – sich als Mensch zu erfahren. Und das macht Literatur systemrelevant.
Der Vortrag wurde im Juni 2020 am Philosophischen Institut der Europa Universität Flensburg im Rahmen eines Seminars gehalten.
Literatur
Bataille, Georges (2011): Die Literatur und das Böse.
Ebd. (2017): Die innere Erfahrung. Matthes & Seitz. Berlin.
Bloom, Harold (1997): The Anxiety of Influence. A Theory of Poetry. Oxford University Press. Oxford. New York.
Lotman, Jurij (2015): Die Struktur des künstlerischen Textes. Suhrkamp. Frankfurt am Main.
Nussbaum, Martha (1990): Love’s Knowledge. Essays on Philosophy and Literature. Oxford University Press. Oxford. New York.
Ebd. (1995): Poetic Justice. The literary Imagination and Public Life. Bacon Press. Boston.
Sartre, Jean Paul (2018): Was ist Literatur? Rowohlt. Reinbeck. Hamburg
Zitat James Baldwin: https://www.brainpickings.org/2017/05/24/james-baldwin-life-magazine-1963/ (aufg. am 25.05.2020)