Inspirationen Schreiben

Schreiben

Die Einsamkeit des Schreibens, das ist die Einsamkeit, ohne die Geschriebenes nicht entsteht oder zerbrökelt, blutleer von der Suche, was man noch schreiben könnte.
Marguerite Duras

Es war immer da. Das Schreiben. Manchmal schreibe ich über das Schreiben. Von innen heraus. Keine analytische Betrachtung oder wegweisende Richtlinien, die anderen als Vorgabe dienen könnten. Es ist mehr so, als ob das Schreiben aus sich selbst heraus erzählt. Es ist da. Das Schreiben bricht aus mir heraus. Ergießt sich auf dem Papier. In modernen Zeiten ist es ein Bildschirm. Das ist egal. Es bricht aus.
Das Schreiben hatte eine eigene, eigenständige Persönlichkeit, lange bevor ich Stimmen fand, die den gleichen Klang hatten. Das scheint mir vermessen, denn es beinhaltet einen Vergleich. Wer bin ich schon. Also lange, bevor ich Stimmen fand, denen ich mich nah fühlte, von denen ich glaube, zu verstehen, was sie sagen.
Es ist 1994. Der 17. Oktober. Ich kann mich nicht mehr an diesen Tag erinnern. Da ist nichts mehr. Ich war an diesem Tag in einem Buchladen und habe ein Buch von Marguerite Duras gekauft. »Schreiben«. Es ist die erste Stimme, der ich mich nah fühlte, die ich in mir selbst höre. Ich bin so klein, so winzig, so bedeutungslos.

Es ist das Schreiben. Ich kenne den Wahn. Nein, ich kenne den Schmerz. Die Umkehr von Proportionen, die alles verschlingend groß und riesig erscheinen lassen und einen selbst so winzig. Verloren. Wo? Im Schmerz? Im Schreiben? Der Schmerz ist da. Das Schreiben lacht kalt. Den Schmerz kennen wir. Der macht uns keine Angst. Er ist immer da, wie ein Versprechen. Das Schreiben ist die Dimension, in der ich dem Schmerz entkomme. Für den Augenblick. So lange die Worte in Bewegung sind, so lange die Sätze fließen, hat der Schmerz keinen Platz in diesem Raum. Ohne Worte, ohne das Schreiben ist dort Leere, die durch den Schmerz gefüllt wird. Ich schreibe. Das Schreiben brüllt in mir. Will gehört werden. Von mir, der ich es niedergekämpft, verbannt hatte. Ich hatte mich dem Schmerz hingegeben.

Im betäubenden Rausch des Schmerzes der Wirklichkeit nicht mehr zugänglich. Was ist schon Wirklichkeit. Ist der Schmerz nicht wahrhaftiger als alle Lügen, die gesponnen werden, nur um ihn nicht fühlen zu müssen? Schreiben ist Schmerz und Schmerz ist im Schreiben. Das Schreiben lacht kalt. Das Schreiben hat kein Mitleid mit mir. Ich bin ihm ausgeliefert, wie dem tosenden Schmerz. Wenn ich aufhöre – wenn ich mich nicht mehr dagegen wehre, wenn ich mich dem Schreiben ergebe – fließen die Worte und die Finger eilen über die Tasten und der Schmerz fließt in die Buchstaben und bildet Sätze und Sinn und Ordnung.

Mit dem Schreiben kommt die Ordnung. Die Dinge sind nie in Ordnung. Die Gedanken, die Gefühle sind reines Chaos. Es ist nicht in Ordnung. Das Schreiben sortiert den Wahnsinn, schreiben. Nicht aufhören und nicht fähig, den Worten ihren Schmerz zu entziehen. Schreiben. Sich im Schreiben verlieren und wiederfinden. Ohne das Schreiben bin ich verloren.


Duras, Marguerite: Schreiben. 1. Aufl. Suhrkamp. Frankfurt am Main 1994. S. 8