Schreibworkshop

little blogshop | Das Schreibexperiment

In diesem Kapitel geht es um ein Schreibexperiment der besonderen Art. Nach der harten Arbeit am Handwerk wird es Zeit für ein Schreibabenteuer, für eine schreibverändernde Erfahrung.
Ich bin bei der Arbeit zu einem Gedicht auf die Idee gekommen und inspiriert hatte mich ein Artikel meines Kollegen Glenn Fisher (britischer Werbetexter). Er schreibt – ganz in meinem Sinne – darüber, daß Werbetexter für einen größtmöglichen kreativen Output zuerst für größtmöglichen breitgefächerten Input sorgen müssen.

Also lesen, lesen, lesen. Aber auch sehen, erleben, erfahren. Jede Erfahrung, jede Wahrnehmung, jeder gelesene Satz wird unbewußt abgespeichert und führt unter Umständen zu exakt dem neuen, unverbrauchten kreativen Gedanken, der gebraucht wird.

Das Prinzip ist nicht neu. Im Kapitel über Themenhänger und Schreibblockaden habe ich bereits über die Kreativitätspsychologie und die seltsamen Wege im Gehirn geschrieben. Und auch hier geht es um Abkürzungen, Umwege und neue Hirnpfade, die Informationen verknüpfen, die andere Hirne eben nicht in Beziehung setzen. Es geht darum, die Perspektive zu wechseln, wie ein Schauspieler in eine Rolle zu schlüpfen. Das Experiment ist nicht ganz ungefährlich, denn in das Leben eines anderen einzutauchen, nachzuempfinden und, wo es möglich ist, nachzuleben, birgt die Gefahr sich selbst zu verlieren.

Kann man wie Hemingway schreiben, auch wenn man nicht kettenrauchend säuft wie ein Fass ohne Boden? Kann man die Wörter finden, die Atmosphäre erschaffen, wenn man nicht wie Virginia Woolf mit einem begnadeten Verstand gegen das innere Grauen ankämpft – getrieben in der Produktivität und gelähmt in der Verzweiflung?

Ausgangspunkt meines persönlichen Schreibexperimentes war die Frage, welche Literatur mich inspiriert, welche Autoren mich interessieren. Und was ich daraus lernen könnte. Und ich stellte fest, daß mich zumeist weibliche Künstlerinnen und Autorinnen beeinflussen, die entgegen gesellschaftlichen Normen und Konventionen gegen jede Tradition aufbegehrten und ihr eigenes Ding durchzogen …

Brachial, leidenschaftlich und verzehrend die Lebensgeschichte von Camille Claudel, die mich 1992 in einen wahnsinnigen Strudel aus Schaffensdrang, Hingabe an die Kunst und das Leben und die völlige Zerstörung der Seele riß.  Das eine Leben von Camille Claudel aus verschiedenen Perspektiven zu sehen, schafft ein viel lebendigeres Bild, zieht mich umso mehr in die Geschichte, in ihre Geschichte.
Neben verschiedenen Biografien und natürlich Bildbänden gibt es eine wunderbare Verfilmung mit Isabelle Adjani und Gerard Depardieu als ein fantastischer Auguste Rodin. Es entsteht meine persönliche Danaide.

Schon kurz darauf folgt Marguerite Duras. „Der Liebhaber“ läuft im Kino. Es ist Sommer, in der realen Welt und in Sadec, Indochina in den zwanziger Jahren. Schwüle, feuchte Hitze. Glitzernde Schweißperlen und das träge Summen von Zikaden. Die schwüle Luft ist von Wolllust durchtränkt und steigt mit dem Morgennebel auf, um sich wie eine Umarmung um das heiße Fleisch zu legen. Opiumgeschwängerte Tage im Schatten des unvermeidbaren Schicksals. Vermischt mit dem Duft der Liebe, der süße Duft der Verwesung, das unausweichliche Ende der pittoresken aventure d‘amoureuse ohne Liebe, konserviert in einer alkoholisierten Erinnerung in einem düsteren Pariser Zimmer, begraben unter Zigarettenqualm und Schmerz.
Ihre Biografie zu lesen ist unerträglich. Also lese ich ihr Buch „Schreiben“. Und ich schreibe über Schmerzen. Und über Sehnsucht. Und manchmal auch über die schmerzende Sehnsucht nach dem Verlangen. Ich finde den Schmerz im Schreiben wieder. Es ist mein Schmerz. Ich tauche sehr lange nicht wieder aus diesem Schmerz auf. Das Schreiben zerbricht.
Ich bewege mich auf eine andere Ebene: Jane Austen. Jane zu lesen ist sicher. Ebenso wie die Brontës. Es ist düster. Nebel über Englands torfigen Mooren. Verzweiflung, Intrigen, aber ich bin sicher. Meine Schreibseele ergötzt sich an der Exzentrik einer Mrs. Bennett. Das sind meine Wurzeln. Ein paar zumindest. Ein paar dunkle Elemente, wie der Schatten am Fenster von Wuthering Hights. Es kann nur einen geben. Was für Connor MacLeod gilt, und den von mir als halben Landsmann schwer verehrten Sean Connery, gilt auch für Colin Firth als Mr. Darcy. Wobei man der Ehre halber sagen muß, daß es absolut rein gar nichts gegen die Verfilmung mit Kira Kneithley und Donald Sutherland als Mr. Bennet zu sagen gibt.

Und wenn man schon dabei ist, einen Tag im Bett mit Tee und Keksen und Pride&Prejudice zu verbringen, dann kommt man oder besser frau nicht um „Lost in Austen“ herum. Und das ist eine allgemein anerkannte Wahrheit.

Ich beschäftige mich mit Coco Chanel, auch eine Verfilmung mit Audrey Tautou, mit Rosalind Franklin, deren Tragödie mir beim Lesen des Buches von James T. Watson 1991 in keinster Weise gedämmert ist. (Die auch offensichtlich nichts von Marie Curie gelernt hat, so rein technisch.) Wie sollte auch? Aus Watsons Sicht war die Geschichte mit der DNA doch super gelaufen. Und man kann nicht erwarten, daß er, wenn er über sich schreibt, profunde psychologische Analysen seiner Mitstreiter einflicht.
Ich lande bei Sylvia Plath und einer Verfilmung mit Gwyneth Paltrow, die mir schon in „Besessen“ ausnehmend gut gefallen hat und dort auf Jennifer Ehle trifft, die in der BBC Reihe P&P die Eliza Bennett gibt. Also – „Besessen“ (von Antonia S. Byatt) gehört auch zu den Büchern, die ich unbedingt empfehle.

Sylvia Plath. Nach langer Zeit ein hemmungsloses Eintauchen ins Schreiben. Ich höre Elli Goulding (was die Sache nicht besser macht) und Tage, Nächte – Zeit verschwimmt zu einem Vakuum. Das stabile Konstrukt meiner Schreibseele löst sich auf. Die Grenzen zwischen Innen und Außen, sorgsam gehütet, entgleiten mir.
Marguerite Duras schreibt:

„Es gibt einen Schreibwahn in einem selbst, einen Schreibwahnsinn, aber deswegen ist man nicht wahnsinnig. Im Gegenteil.“*

Marguerite Duras

Sylvia Plath ist es. Oder auch nicht. Der Schmerz kommt zurück. Das Schreiben wird zum alles bestimmenden Herzschlag. Bei Hermann Hesse sind „Extreme nur die Pole, zwischen denen sich die zum Leben notwendige Energie erzeugt“. Gilt das auch für Manie und Depression? The writer’s disorder. Kann man erst dann die essentiellen Tiefen des Schreibens ausloten, wenn man in diesen Teilchenbeschleuniger der Gefühle gesogen wird? Wie soll Alltag funktionieren, wenn die Schreibseele nach dem Wort lechzt, nach dem leeren Papier verlangt und Sätze, Gedanken wie eine Flutwelle aus jeder Pore strömen? Ich schreibe, manisch getrieben. Das äußere Leben verblasst und ich wundere mich, wenn ich in einem plötzlichen Erwachen das Haus, den Mann wahrnehme. Gehöre ich dazu? Muß ich jetzt etwas tun oder sagen? Bin ich ein Teil in diesem Außen?

Die Musik ist die Nabelschnur zur Realität. Das war sie schon immer. Der Rest Vernunft, wenn der Schmerz kommt. Wenn die Angst und der Zweifel alles verschlingt. Ich liebe das Geräusch des Stiftes, wie er beim Schreiben über das Papier kratzt. Die Melodie des Schreibens. Das ist poetisch. Schreiben – und der Stimme des Stiftes, der Stimme des Schreibens lauschen. Leise und meditativ. Beruhigend. Das Schreiben ist voller Bedeutung. Schicksal liegt in dem Geräusch. Hoffnung, Verheißung. Das Geräusch beim Schreiben ist Gefühl, Gedanke, Leben. Ich möchte lauschen, zuhören, verstehen und mich dabei verlieren. Ich liebe das Geräusch, die Stimme des Schreibens. Ich habe sie so vermisst. Ich bin einen kurzen Augenblick aus der Realität gerissen und glücklich, während meine Hand rastlos über das Papier eilt. Der Strom an Wörtern und Sätzen darf nicht enden und das beruhigende Gefühl, die Melodie des Schreibens. Das Schaben der Federspitze, das Kratzen gegen den Widerstand des Papiers. In diesem Gedanken, in dieser Melodie möchte ich verweilen. Meine Schrift wird immer abstrakter, die Gedanken fließen dahin, kaum zu lesen, kaum zu entziffern. Der Punkt, ein kleiner stupsender Ton dringt durch meine Gedanken. Wenn es doch nur immer so bleiben könnte, ich einfach in diesem Moment verharren würde. Das Schreiben auskosten bis ich satt bin. Satt sein. Ich bin hungrig. Ich bin hungrig nach Worten und Sätzen, nach dem Fließen der Gedanken in das Papier. Die Feder kratzt unaufhaltsam weiter, der Rhythmus der Bewegungen, das Transformieren in Melodie, in ein gleichmäßiges Schwingen von Schreiben und Pausen. Buchstaben, große, weiche Rundungen, kleine, zackige Kanten, neues Ansetzen. Innehalten. Einen Punkt setzen. Nichts könnte die Tiefe beim Schreiben ersetzen, die sich nur durch den Stift einstellt. Das Verschmelzen von Hand und Gedanke und Stift und Melodie. Schreiben, weiter schreiben, nur dem Geräusch verfallen, alles verschlingendes Berauschen am Schreiben und die tintenleere Stille, wenn die Wörter nicht mehr fließen wollen, wenn der Stift sich in das Papier bohrt. Ich schreibe weiter, getrieben, süchtig, verlangend nach dem nächsten Satz, dem kommenden Wort.

Ich muß in den Garten gehen. Ich nehme Vita Sackville-West mit. Wen sonst? Ob Sissinghurst ihre Nabelschnur war? Nein, sie war so pragmatisch, so im Leben. Sie brauchte keine Nabelschnur. Aber war sie es für Virginia Woolf? Der Briefwechsel der beiden reißt mich zurück Leben, mit einem heftigen Spatenstich, geerdet, geboren, mit erdverkrusteten Händen zurück im Sein. Die stille Poesie der Briefe finde ich in meinem Garten, in dem leisen Grün, das doch am Ende Naturgewalt ist. Wie das Schreiben.

Was bringt mir das Experiment? Schreiben ist Rausch und Droge und die Abwesendheit Entzug, Abspaltung eines Teils meines Wesens. Nicht jeder empfindet so. Nicht jeder mag sich dem Schreiben hingeben, wie einem zärtlichen Liebhaber, sich der rohen Gewalt der Wörter ausliefern. Bloggen kann eine Form des literarischen Erschaffens sein. Um herauszufinden, wie sehr man bereit ist, sich dem zu stellen, gilt es, sich dem Schreiben zu stellen, sich dem Schreiben zu öffnen. Ohne Ziel. Ohne Sinn. Ohne Erwartungsdruck oder Versagensangst.

Schreibe für den Augenblick!

Aufgabe: Suche Dir eine Künstlerin oder einen Künstler, eine Figur aus einem Buch oder Film und tauche schreiberisch in dieses Leben ein. Nutze Deine Möglichkeiten, ein Shoppingbummel als Carrie Bradshaw, ein Abend am Meer, Zigaretten, Wein als Hemingway, (nein, keine Drogen, keine Koksparties!!! Und ich möchte auch nicht, daß Du morgens in einer Ausnüchterungszelle aufwachst), Schokolade – vielleicht bist Du Vianne aus „Chocolat“ von Joanne Harris? Lies Bücher der Autorin, eine Biografie oder Bücher über die Figur, schau dir Filme dazu an (ich habe zum Beispiel eindeutig ein Bridget-Jones-Gen in Berlin gerade wieder unter Beweis gestellt … darüber hätte ich auch sehr viel und schön schreiben können) und schreibe unter der Überschrift „Mein Sommer als …“.
Viel Vergnügen!


*Duras, Marguerite: Schreiben. Suhrkamp 1994. S. 57

Und die Übersicht zu den einzelnen Kapiteln findest Du natürlich HIER