Fantasy

Eve – Das Tattoo

Leseprobe

Ich dachte, dass dies der verrückteste Tag in meinem Leben war. Und ich dachte eine Menge über diesen Tag. Aber von der Wahrheit war ich damals so weit entfernt, wie ich jetzt von meinem alten Ich entfernt bin. Ich bin ich, und ich bin es wiederum nicht. Mein altes Ich war … ja, was war ich eigentlich? Wer war ich überhaupt? Ich hatte studiert, einen mies bezahlten Job in einem Steuerbüro, und zuhause wartete nur mein Taschenrechner auf mich. Als ich an jenem Dienstag auf dem Weg in meine kleine Wohnung war, sah ich mein Spiegelbild in den Schaufenstern von Boutiquen, deren Kleider ich nie gewagt hätte zu tragen. Ich sah meine braunen Haare, die streng zu einem Knoten gebunden waren und den grauen Hosenanzug, den ich immer dann trug, wenn der Blaue in der Reinigung war. Ich sah meine Hände, die die schwarze Handtasche umklammerten und die flachen Schuhe, die nicht mal ein Geräusch auf dem Pflaster verursachten. Ich fühlte mich selbst derart unscheinbar, dass es mich nicht wunderte, dass kaum jemand Notiz von mir nahm, geschweige denn etwas über mich zu erzählen gewusst hätte. Selbst mein Chef schien sich nur dann an mich zu erinnern, wenn ich mir Urlaub nahm. Ich beschloss, dass sich auf der Stelle etwas ändern musste. Zwei Straßen weiter war ein Coffee Shop. Einer dieser Filialen, deren Auswahl an Kaffeespezialitäten komplizierter als meine Einkommenssteuererklärung ist. Ich entschied mich für einen Café Latte und stellte mich mit dem Pappbecher an einen Tresen am Fenster. Draußen war es dunkel geworden. Nicht einmal der Mond leuchtete über den Dächern. Mein Blick zog gelangweilt über die grelle Neonreklame der Einkaufsstraße. Auf dem Nachhauseweg einen Kaffee zu trinken, war nicht unbedingt eine radikale Maßnahme mein Leben zu verändern. Ich spülte den letzten Schluck runter, warf den leeren Becher in den Mülleimer und stieß die Ladentür auf. Mein Blick glitt über die bunten Lichter und blieb an einem Schild hängen, das mir in blassem Blau aus einem kleinen Fenster auf der anderen Straßenseite entgegen schimmerte. Ohne mir darüber bewusst zu sein, überquerte ich die vierspurige Fahrbahn. Ein paar Schritte weiter, in einem kleinen Innenhof, lockte ein kleiner Tattoo Shop mit einem illuminierten Schriftzug. Im Schaufenster entdeckte ich einen Altar, auf dem Blüten und mit Räucherwerk gefüllte Messingschalen standen. Ich versuchte, die Blütenblätter zu fokussieren, aber irgendwie blieb mein Blick verschwommen. Ich streckte meine Hand aus und berührte zögernd den Griff, der kalt und glatt in meiner Hand lag. Seit jenem Abend erinnere ich mich an jedes Detail meines Lebens, als ob ich es wie in einem Buch wieder und wieder anschauen könnte.
»Na, was darf’s denn sein? Eine hübsche Rose auf die Schulter oder ein Schriftzeichen am Knöchel?«
Im schummerigen Licht einer Lampe erkannte ich einen Asiaten mit langen, weißen Haaren
»Ich – ich weiß es nicht. Ich bin eigentlich mehr per Zufall hereingekommen.«
»Zufälle sind die Momente, in denen sich das Leben selbst in die Hand nimmt. Setzen Sie sich und trinken Sie einen Tee mit dem alten Ming Shu.«
Der alte Mann schlurfte in den hinteren Bereich und kam nach kurzer Zeit mit zwei dampfenden Porzellanschalen wieder, von denen er mir eine reichte. Inzwischen hatten sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt. Die Räucherstäbchen, die einen entspannenden Duft verbreiteten, vermischten sich mit dem herben Geruch des Tees.
»Fürchte nicht die Dämonen – fürchte den Schatten ohne Seele.«
»Bitte? Was für Dämonen? Ich glaube nicht an so was.«
Der alte Mann kicherte leise.
»Ich denke, ich möchte etwas Einmaliges haben. Etwas, das nur ich besitze.“
„Das Motiv ist die Seele, die dich findet, wenn Du sie lässt.«
Ich hatte keine Ahnung, was der alte Mann meinte. Aber durch den heißen Tee und den süßrauchigen Duft wurde ich müde, wie benommen. Ich stellte die Teeschale auf einen Tisch.
»Der Tee schmeckt sehr gut, danke.«
Der alte Chinese legte seine Hände über meinen Kopf, ohne mein Haar zu berühren. Mir wurde warm und schwindelig.
»Verlassen Sie Ihre Gedanken. Ja, das ist gut.
Ich hörte das leise Klingen eines Windspiels, obwohl es draußen windstill war. Der süße, schwere Duft in dem kleinen Raum hüllte mich ein. Ich lehnte mich zurück und schloss für einen Moment die Augen. Es war, als hätte ich mich selbst vergessen, das Spiegelbild, das mich hoffnungslos aus den Fenstern angeblickt hatte. Ich hörte das gleichmäßige Brummen der Tätowiernadeln und fühlte ein leichtes Prickeln am Hals, das sich bis hinter mein linkes Ohr zog. Das Windspiel wurde immer lauter, und der aufgekommene Nebel verzog sich so plötzlich, wie er gekommen war und machte einem lautlosen Regen Platz. Irgendwie passte das alles nicht zusammen. Solange mein Blick in dem kleinen Raum verweilte, sah ich die Dinge trotz der Dunkelheit seltsam klar und scharf konturiert. Aber draußen schien alles zu verschwimmen. Und gleichzeitig konnte ich die Regentropfen klar voneinander unterscheiden, als wenn mein Gehirn ganz neue Informationen filterte und zu einem neuen Bild verband. Ich war so angenehm müde, und trotzdem konnte ich jeden Gedanken präzise auf den Punkt bringen. Im Grunde war es mir in dem Moment egal, warum die Welt plötzlich so war, wie sie war. Oder ob sie schon immer so gewesen war und ich es nur erst jetzt bemerkt hatte. Das Geräusch der surrenden Nadeln verschwand aus meinem Bewusstsein und ich fühlte mich seltsam schwerelos.
»Sie sind fertig«, hörte ich den alten Chinesen schließlich sagen.
Ich murmelte ein schläfriges danke, stand auf und streckte meinen Hals.
Der Chinese verbeugte sich mit einem eigenartigen Lächeln und sagte: »Der Dämon ist ein Teil Ihrer Seele. Finden Sie ihn!«
Verwirrt trat ich hinaus. Der Regen hatte aufgehört und das Klangspiel bewegte sich leise tönend, obwohl ich draußen keinen Luftzug wahrnehmen konnte. Immer noch benommen ging ich nach Hause und schlief sofort ein.

Am nächsten Tag meldete ich mich krank. Ich hatte morgens müde und zerschlagen, als o ich einen Kater hätte, im Badezimmer vor dem Spiegel gestanden und meinen Augen nicht getraut. Ungläubig tastete ich nach der Kruste während meine andere Hand sich um den Rand des Waschbeckens krallten. Auf meinem Hals war außer dem getrockneten Blut nichts zu sehen. Ich griff hilflos nach Erinnerungsfetzen, die keinen Sinn ergaben. Nur der Chinese und seine Stimme klangen wie ein unheimliches Echo in mir nach. Entschlossen, den alten Mann zur Rede zu stellen, stieg ich in ein Taxi, das mich zu der Hofeinfahrt brachte. Obwohl ich direkt davor stand, hatte ich das beklemmende Gefühl, dass die Dinge nicht so waren, wie sie hätten sein sollen. Erst als die Türklinke nicht einen Zentimeter nachgab und nur ein rostiges Scharren ertönen ließ, begriff ich. Das Fensterglas war blind und schon seit Jahren nicht mehr geputzt worden. Ich konnte die Spinnweben und die dicke Staubschicht erkennen, unter welcher der kleine Raum begraben lag. Ungläubig schüttelte ich den Kopf. Wenigstens auf Coffee&More war Verlass. Der Laden stand tatsächlich noch da, wo er am Abend zuvor gestanden hatte, und ich bestellte einen Espresso.
»Sagen Sie, was ist eigentlich aus dem Tattoo Shop und dem alten Chinesen geworden?«
Ich versuchte, möglichst unverfänglich zu klingen.
»Tattoo Shop? Wo soll denn der gewesen sein?«
Der Besitzer hinter dem Tresen hörte sich gelangweilt an.
»Na, der kleine Laden im Hinterhof gegenüber.«
»Ach, der… Keine Ahnung, der stand schon immer leer. Jedenfalls seitdem ich hier arbeite.«
»Oh, dann habe ich das wohl verwechselt.«
Ich bekam eine Gänsehaut und fragte mich, ob das vielleicht alles ein Traum war. Menschen eilten hektisch am Schaufenster vorbei, ein Auto hupte. Das erschien so normal, so unspektakulär, aber ich empfand es als unnatürlich und beklemmend.

Wieder in meiner Wohnung sah ich, dass mein Anrufbeantworter blinkte, aber ich ignorierte ihn. Ich blieb einfach zuhause, schlief, grübelte nach und tastete nach der verschwundenen Tätowierung, deren Borke hartnäckig von ihrer Existenz zeugte. Ich hatte mir Pizza kommen lassen und eine Flasche Rotwein. Als der Bote klingelte, schlang ich mir einen dicken Schal um den Hals, der die Borke verdeckte.
»Einmal die dreiundvierzig, wie immer ohne Anchovis und einen Chianti mit Grüßen vom Chef.«
»Danke, Emilio, Ihr seid die besten«, krächzte ich und kramte in meinem Portemonnaie.
»Sommergrippe, hm? Gute Besserung, Evelyn.«
»Danke.«
»Tschau, Bella.«
Emilio zwinkerte mir zu. Er zwinkerte mir immer zu, allerdings übersah ich das geflissentlich. Ich zerteilte die Pizza sorgfältig in acht Tortenstücke, spülte den Pizzaschneider ab und entkorkte den Wein. Der Chianti aus der Trattoria kam von Alfredos Cousin aus Lucca, das wusste ich von Alfredos Sohn Emilio. Den bekam nicht jeder. Ich prostete Alfredo innerlich zu und trank das Glas in einem Zug leer. Mitten in der Nacht wachte ich auf. Ein helles Licht blendete mich und ich musste blinzeln. Der Mond stand als gelbe runde Kugel zum Greifen nah vor meinem Fenster. Mein Mund war trocken und ich ging in die Küche, um ein Glas Wasser zu trinken. Wieder tastete ich nach der Tätowierung, und zu meiner Überraschung war die Kruste verschwunden. Die Haut fühlte sich glatt und weich an. Ich stellte das Glas in die Spüle und schaute in den Spiegel. Der Blutschorf war komplett abgeheilt, dafür konnte ich nun eindeutig ein Motiv erkennen. Das konnte unmöglich sein!

Ornamentale Ranken, verwoben mit Schriftzeichen, schienen an meinem Hals entlang zu wachsen. Ich hatte das Gefühl, so langsam doch den Verstand zu verlieren und floh aus der beklemmenden Enge meiner Wohnung hinaus. Ziellos und doch wie gehetzt irrte ich durch die Stadt. In der äußeren Welt wehte eine alte Zeitung über die Straße und eine Fahne flatterte wild in einem Wind, den es nicht gab. Mein Blick war seltsam gestört. Die Konturen der Häuser verschwammen und gleichzeitig sah ich alles mit beißender Intensität. Ich blinzelte mehrmals, aber es änderte sich nichts. An einer Ecke entdeckte ich einen ungewöhnlichen Friseursalon, der offenbar auch nachts geöffnet hatte, denn er war hell beleuchtet. Der Laden hatte zwei breite Türen mit langen Messinggriffen, wie ich sie schon mal an einem alten Tabakladen gesehen hatte. Das Tabakgeschäft müsste eigentlich auch ganz in der Nähe sein. Ich kannte es, weil es der einzige Laden war, der Aromablätter für losen Tabak verkaufte. Und ab und zu kaufte ich mir ein Päckchen Halfzware und dazu Kirscharoma und drehte mir etwas verkrüppelt aussehende Zigaretten. Mein Kollege Dietmar zog mich gerne damit auf, daß ich meine Zigaretten nicht drehen, sondern falten würde. Eigentlich hätte mir der Salon auffallen müssen. Ich drückte beide Türen nach innen auf und ging auf eine nierenförmige Theke mit türkis gemusterten Fliesen zu. Eine seltsam alterslos wirkende Frau mit toupierten Locken und grellem Make-up saß hinter der Theke.
»Na, Süße, was kann ich für dich tun?«
Ihre Stimme klang rau und verbraucht.
»Ich hasse meine Haarfarbe!«
Hatte ich das gerade wirklich gesagt? Ich hatte mich noch nie für Frisuren oder Haarfarben interessiert.
»Kein Problem, Schätzchen. Was hätt’ste denn gerne?«
»Rot. Ein dunkles Rot, bitte.«
»Auch noch’n bisschen Farbe für’s Gesicht, Süße?«
»Warum nicht? Wenn wir schon dabei sind!«
Die Frau stellte sich als Giselle vor, vermutlich ein Name, den sie sich für ihren Job zugelegt hatte. Sehr französisch wirkte sie trotzdem nicht. Als ich fertig geschminkt und frisiert in den Spiegel schaute, starrte eine fremde Frau mysteriös lächelnd zurück. Meine Haare fielen weich auf meine Schultern und leuchteten wie dunkles Blut. Überhaupt hatte ich mein altes, unscheinbares Ich wie eine Schlangenhaut abgestreift, und mein Verstand focht einen erbitterten Kampf gegen den Sog, der mich in dieses neue Ich zu ziehen schien. Meine Augen erzählten von einem Leben, das ich nicht kannte und das mir Angst machte. Die Blütenranken waren über mein Schlüsselbein gekrochen, während ein paar lange Triebe sich meine Hals entlang schlängelten. Das Tattoo wuchs von selber. So was gab es nicht. Ich schluckte und versuchte, mich auf irgendwas Reales zu konzentrieren. Giselle hatte kein Wort über meine ungewöhnliche Tätowierung verloren. Aber dann fiel mir ein, in welcher Umgebung der Laden stand, und dass Tätowierungen, welcher Art auch immer, hier vermutlich normal waren. Vielleicht konnte ich sie nach dem alten Chinesen fragen. Giselle stand hinter mir und starrte mich ebenfalls an. Offensichtlich hatte auch sie die enorme Veränderung meines Aussehens überrascht. Spontan drehte ich mich um.
»Das klingt vielleicht etwas blöd, aber ich habe mich tätowieren lassen und das war irgendwie seltsam. Vielleicht kennst Du den Laden ja.«
»Tattoo-Shops gibt es viele. Wo warste denn?«
»Ein kleiner Laden mit einem alten Chinesen. Der Mann hat sehr merkwürdige Dinge zu mir gesagt, die ich nicht verstanden habe. Etwas von Dämonen und Seelen.«
»Nee, Schätzchen, tut mir leid, aber von dem alten Mann habe ich noch nie gehört.«
Giselle klang unbeteiligt, aber etwas in ihrer Stimme störte mich. Bemüht gleichgültig sortierte sie die Bürsten in ihrem Friseurwagen.
»Er nannte sich Ming Shu.« Ich ließ den Klang des Namens mit der Erinnerung verschmelzen.
»Gibt es hier auch Jobs?«
»Klar, horizontal geht immer, aber leg‘ dich nicht mit den Mädchen hier an.«
»Nein, ich dachte eher an einen Thekenjob, oder so.«
»So, ja, dann frag‘ mal Jimmy im Dark Angels drüben und richte ihm Grüße von mir aus.«
»Ja, danke, das werde ich tun.«

Schon von weitem sah ich den blauen Schriftzug über dem Gebäude. Ich schlängelte mich unter den musternden Blicken der beiden Türsteher in den nur von diffusem Licht beleuchteten Innenraum und fragte an der Theke nach dem Besitzer.
»Jimmy ist hinten. Willst Du was trinken?«
Die Frau schaute mich mit unverhohlener Neugier an.
»Danke, nein, im Moment nicht.«
Auch sie wirkte seltsam alterslos und gleichzeitig unglaublich schön. Ich sah mich um. Der Raum war größer, als es mir im ersten Moment vorgekommen war. Und auch wenn das Licht so gedimmt war, dass man kaum Gesichter erkennen konnte, bemerkte ich, dass alle Menschen hier seltsam zeitlos und schön aussahen, wie es mir schon bei Giselle aufgefallen war. Aus dem Dunkel tauchte eine hohe Gestalt auf, die direkt auf mich zu kam. Ein Mann mit kurzen, weißen Haaren und schwarzen Augen, die mich durchdringend ansahen. Er wirkte nicht viel älter als ich und gleichzeitig erzählte sein ruhiger Blick von vielen gelebten Jahren.
»Eve, solltest Du nicht…«
Er guckte genauso irritiert, wie ich es bei Giselle bemerkt hatte. Und beide versuchten dieses heimliche Taxieren vor mir zu verbergen.
»Hallo. Ich bin Jimmy. Was kann ich für dich tun?« Er streckte mir die Hand entgegen.
»Oh, hallo, ich bin – Sandy. Ich soll dir Grüße von Giselle ausrichten. Ich suche einen Job.«
Mittlerweile war ich mir nicht mehr sicher, ob das so eine gute Idee gewesen war.
»Giselle, ja? Hm… ich könnte noch eine Tresenkraft gebrauchen.«
Ich konnte mich kaum auf seine Stimme konzentrieren, vielmehr zog mich eine hypnotische Musik in ihren Bann.
»Was passiert da?«, fragte ich zum hinteren Bereich schauend, wo sich eine Bühne mit einer Metallstange befand.
»Da, meine Liebe, tanzen unsere Engel zu den Rufen der Dämonen.«
Schon wieder. So langsam schien das Überhand zu nehmen.
»Ich glaube, ich scheine ein Problem mit Dämonen zu haben.«
»Haben wir das nicht alle?«
»Ich hatte eigentlich keins. Bisher jedenfalls.«
Jimmy hatte sich auf einen Barhocker neben mich gesetzt und schob mir ein Glas mit einer klaren Flüssigkeit hin. Ich mochte weder Whisky noch andere harten Sachen, aber dieser Drink schmeckte angenehm mild und gar nicht nach Alkohol. Den er aber ganz offensichtlich hatte, denn mir wurde leicht schwindelig.
»Was ist das?«
»Elderschnaps, nie probiert?«
»Hm, schmeckt gut.«
Ich nahm noch einen tiefen Schluck und erzählte von dem Tattoo-Shop und dem alten Mann und seinen kryptischen Bemerkungen.
»Als ob ich unter Drogen gestanden hätte und gleichzeitig so klar wie noch nie denken konnte.«
Jimmy schaute mich lange ohne ein Wort zu sagen an. Er erinnerte mich an einen jungen David Bowie, vielleicht etwas durchtrainierter.
»Und Giselle hat dich zu mir geschickt?«
»Ja, sie meinte, dass Du mir vielleicht weiterhelfen könntest.«
»Von dem Chinesen habe ich noch nie gehört, aber wenn Du willst, kannst Du den Job haben.«
Jimmy hörte sich so beiläufig an, als ob wir über das Wetter geplaudert hätten. Ich hatte inzwischen die neugierigen Blicke und das eigenartige Verhalten satt. So ungewöhnlich sah ich nun auch nicht aus. Ich ging jede Begebenheit im Kopf durch. Die Leute hatten mich angeschaut, als wenn sie mich kennen würden und dann gemerkt hätten, dass etwas nicht stimmte. Mit mir nicht stimmte. Was war mit mir? War es doch die Tätowierung? Ich fühlte mich erschöpft und müde und wollte nur noch ins Bett und schlafen.
»Okay, morgen um gleiche Zeit?«
»Ja – und sag mal, trägst Du immer Anzüge oder hast Du noch was anderes?«
Ich schaute an mir herunter. Ich trug tatsächlich meinen Büroanzug, was mit den roten Haaren und den Dunkel geschminkten Augen total unpassend aussah. Das war es. Die Kombination war echt peinlich. Kein Wunder also.
»Ich guck mal, ja? Bis morgen dann.«
Ich nickte Jimmy und dem Mädchen hinter der Theke zu und machte mich auf den Weg nach Hause. Ich hätte mir gern ein Taxi genommen, aber die schienen in dieser Nacht meine Strecke zu ignorieren. Zu allem Überfluss begann es auch noch zu regnen. Weiche Regentropfen, die lautlos zu Boden fielen.

Am Montag wachte ich morgens so entspannt auf, wie schon lange nicht mehr. Das Tattoo war verschwunden und ich war mir auch nicht mehr sicher, ob es überhaupt jemals existiert hatte. Meine roten Haare hatte ich zu einer unauffälligen Frisur zusammengebunden. Hatte ich mir ernsthaft betrunken die Haare gefärbt? Ich konnte mich nicht mehr so richtig erinnern und schob das auf die leere Weinflasche. So viel zum Thema Langeweile. Im Büro nuschelte ich was von einer Magenverstimmung, aber da ich wieder zur Arbeit gekommen war, interessierte das niemanden so richtig. Hauptsache, ich funktionierte. Keiner erwähnte meine neue Haarfarbe. Auf meinem Schreibtisch stapelten sich Ordner und Hefter. Die unbearbeiteten bildeten Türme auf der linken Seite des Schreibtisches und auf der rechten Seite wuchs quälend langsam ein Stapel mit fertig bearbeiteten Ordnern. Ich verließ erst spät und nach allen anderen das Büro und nach den ganzen Steuerparagraphen und endlosen Berechnungen hatte ich das Gefühl, daß alles davor nur ein verrückter Traum gewesen war. Aber dass der Chianti so reingehauen hatte, hätte ich nicht gedacht. Vielleicht hatte Alfredos Cousin noch was anderes außer Trauben zu Wein verarbeitet.

Ich funktionierte wieder so präzise wie ein Uhrwerk. Steuerbescheide von Neun bis Sieben, danach Pizza, eine Telenovela – kein Wein. Dann endlich Wochenende. Es war ein milder Sommertag und ich musste ganz einfach mal raus. Die Sonne tauchte die Welt in warmes, beruhigendes Licht. Der Lärm der Stadt drang gedämpft durch die Bäume des Stadtparks. Alles war so friedlich. Mütter schoben ihre Kinderwagen durch den Park und ein altes Ehepaar fütterte Enten. Ich saß auf einer Holzbank und genoss den Duft des frisch gemähten Rasens, als die Erinnerung an Jimmy und das Dark Angels wie ein Messerstich in meinem Kopf schmerzte. Meine Finger wanderten am Hals entlang. Der fühlte sich wie immer an. Und außerdem hatte ich Kopf- und keine Halsschmerzen. Also doch kein gepantschter Wein. Ich war einfach nur in einer schrägen Bar versackt – nachdem ich eine ganze Flasche Wein gelehrt hatte. Kein Wunder, dass ich solche Aussetzer und Erinnerungslücken hatte. Seit jenem Abend war ich nicht mehr dort gewesen. Ob ich mich dort überhaupt blicken lassen konnte? Ich beschloss hinzugehen, um mich wenigstens zu entschuldigen. Allerdings hatte ich auch nicht mehr die Absicht, dort zu arbeiten, und ich kam mir selbst komisch vor, wie ich auf diese absurde Idee hatte kommen können. Jimmy würde das hoffentlich verstehen.

Obwohl ich mir sicher war, in welcher Straße sich die Bar und der Friseursalon von Giselle befanden, konnte ich sie nicht mehr finden. Jede Straße sah gleich aus mit ihren sandsteinfarbenen Häusern ohne Nummern. Schließlich stand ich wieder auf der Hauptstraße, die zum Zentrum führte und sich direkt vor mir gabelte. Eine spitze Häuserschlucht ragte wie der gewaltige Bug eines Schiffes in der Mitte hervor. In dem Eckhaus war der Tabakladen, den ich von früher kannte. Das Geschäft war geschlossen. Ein Schild hing hinter der Tür, auf dem die Öffnungszeiten vermerkt waren. Ich bekam eine Gänsehaut. Das Haus war absolut identisch mit dem Friseursalon, als ob jemand zwei Bilder übereinander gelegt hätte. Selbst der Tresen stand an der gleichen Stelle. Nur dass er hier aus dunklem Holz gearbeitet war. Ich starrte die Häuserfront hoch. Die Sonne warf nur kurze Schatten, hier in den Straßenschluchten staute sich staubige Hitze. Außer mir war niemand zu sehen. Die feinen Härchen in meinem Nacken stellten sich auf. Die Erinnerung an den Abend in Jimmys Bar weckte eine schmerzhafte Sehnsucht in mir, die ich nicht greifen konnte.

Die Tage vergingen, und mein altes Leben kam mir noch langweiliger und unbefriedigender vor. Tagsüber prüfte ich Steuerbescheide, und abends lag ich bis in die späte Nacht wach und dachte nach. Es war ein Freitag, etwa vier Wochen später. Ich hatte mich müde aus dem Büro geschleppt und mich zuhause unter die Dusche gestellt. Das warme Wasser rann warm über mein Gesicht und an meinem Körper herunter. Ich griff nach dem Shampoo, als ein brennender Schmerz mich aus der wohligen Entspannung riss. Dort, wo das geheimnisvolle Tattoo gewesen war, konnte ich eine wulstige Erhebung ertasten. Ich schob vorsichtig meine Haare zur Seite. An meinem Hals, hinter dem linken Ohr, pulsierte die Farbe in meiner Haut. Nur dass es diesmal keine Ranken und Schriftzeichen waren, sondern ein Drache, der sich zu bewegen schien, je länger ich ihn anschaute. Was zur Hölle war das? Um mich herum begann sich alles zu drehen und mir wurde schwarz vor Augen.
Ich erwachte erst wieder, als ich durch ein helles Licht geweckt wurde. Wieder war es der Vollmond, der mir ins Gesicht schien und ich glaubte eine Stimme zu hören, die meinen Namen rief. Es war, als würde das mysteriöse, neue Ich mich hinaus in die Nacht ziehen. Das Erscheinen der Tätowierung schien keine Bedeutung mehr zu haben. Auf dem Weg zum Dark Angels hörte ich ein Rauschen wie von heftigem Wind und die Blätter der Bäume bewegten sich, obwohl kein Lufthauch zu spüren war. Nebel stieg aus den Gullydeckeln empor. Ich wollte Antworten in dieser seltsamen, zeitstillen Welt finden. Ich fühlte eine innere Ruhe und gleichzeitig eine raubtierhafte Wachsamkeit. Hinter meiner Stirn pochte es, kein Schmerz, nur ein Druck. Und diesmal fand ich die Bar ohne Probleme. Von weitem sah ich den Eingang, schummerig, irgendwie verschwommen. Das war der Ort, an dem ich jetzt sein sollte. Mein altes Leben blieb blass und leise hinter mir zurück.

Jimmy stand hinter der Theke und begrüßte mich mit einem Stirnrunzeln.
»Wo bist Du gewesen?«
»Tut mir leid, Jimmy, ich habe die Bar nicht mehr gefunden.«
Falls ich die Absicht gehabt hatte, mich nur kurz zu entschuldigen, um dann zu meinem normalen Leben zurückzukehren, war von dem Gedanken nichts mehr übrig. Ich fühlte mich so wohl, wie noch nie zuvor. Ich kannte hier niemanden, es gab keinen logischen Grund für dieses Gefühl, aber das war mir egal. Ich wollte hier sein. Und ich wollte hier nicht mehr weg. Etwas hilflos blickte ich in seine dunklen Augen.
»Ich habe mich noch nie verlaufen.«
»Ja, so was kann schon mal passieren«, meinte Jimmy und schaute mich nachdenklich an.
Ich drehte den Kopf und betrachtete die anderen Gäste, die im Dämmerlicht zu namenlosen Schatten wurden. Auf der Bühne sah ich eine Frau, die mir bekannt vorkam. Ich ging ein paar Schritte in ihre Richtung. Sie tanzte zu berauschender Musik, deren hypnotische Melodie ihren Körper zu modellieren schien. Ich konnte den Blick nicht mehr abwenden. Sie sah so wunderschön aus, dass es wehtat. Das Tattoo an meinem Hals brannte wie Feuer. Je näher ich der Bar gekommen war, umso stärker war auch der Schmerz an meinem Hals geworden. Jetzt brachte mich das Brennen – nicht mehr nur am Hals und hinter dem linken Ohr, sondern auch noch bis weit unter das Schlüsselbein – fast um den Verstand, während meine Blicke wie magisch von der Frau auf der Bühne angezogen wurden. Sie riss den Kopf nach oben und ihre Haare schleuderten wie blutige Flammen um ihren Körper. Obwohl ich etwas weiter von der Bühne entfernt stand, halb verborgen von dem wenigen Licht, hatte sie mich entdeckt und zwinkerte mir zu. Ich erstarrte. Die Frau auf der Bühne war – ich selbst! Ich stand zitternd an die Wand gelehnt und sah sie, mich selbst, auf mich zukommen.
»Hallo. Wie schön, dass Du mich besuchen kommst. Ich bin Eve.«
Ihre Stimme klang weich, hell und so ganz anders als meine etwas spröde Stimme.
»Aber …«
Vorsichtig streckte ich meine Hand nach ihr aus und berührte warme, weiche Haut.
»Wir haben dich schon erwartet.«
Ich ließ ich mich an einen Tisch führen, an dem bereits Jimmy und Giselle saßen.
»Ich verstehe nicht…, wer seid Ihr?«
»Bevor wir dir Antworten geben können, musst Du uns bitte noch mal genau erzählen, was Du erlebt hast, bevor Du hierher gekommen bist. Von Anfang an.«
Ich nahm einen tiefen Schluck von einem bitter schmeckenden Getränk, das Jimmy vor mich hingestellt hatte. Dann beschrieb ich, was von dem Augenblick an, an dem ich den Tattoo-Shop betreten hatte, bis zu dem Moment, wo ich mich selbst auf einer Bühne tanzen sah, passiert war.
»Das ist sehr ungewöhnlich.«
Jimmy, Giselle und Eve schauten sich schweigend an.
Dann begann Jimmy zu erzählen.
»Seit Generationen erzählen Eltern ihren Kindern von einer Legende, in der die Alte Welt auseinanderbrach. Zuerst gab es Hass und Kriege, und einige wenige Menschen wurden sehr mächtig und fingen an, alle anderen zu kontrollieren. Die Menschen waren sehr unglücklich und mussten ihre wahren Gefühle und Wünsche immer mehr unterdrücken. Bis sie schließlich so verzweifelt waren, dass sie anfingen sich gegenseitig zu quälen und zu töten. Es gab jedoch eine Gruppe von Mönchen, die versuchten, diese Entwicklung aufzuhalten. Sie waren mächtig genug Dinge zu verändern. Aber sie waren trotzdem nicht imstande, jenes Übel an der Wurzel auszurotten. Sie sprachen zu den Menschen und auch zu den wenigen Mächtigen der Welt. Doch sie wurden nur ausgelacht und verhöhnt und schließlich jagte man sie und brachte sie um. Drei der Mönche konnten jedoch fliehen und versteckten sich in einem Kloster in den Bergen von Ming Rui Shan. Der Älteste hieß Liu Bai Rui, der Weise Fang Ming Shu, und der Mächtigste der Mönche war eine Frau: Lu Ang Li. Obwohl viele sich auf die Suche nach dem Kloster machten, wurde es nie gefunden. Und auch die drei Mönche blieben verschollen. Der Legende nach missbrauchten sie am Ende ihre Macht, um den Tod ihrer Brüder zu rächen. Ihr Bannspruch teilte die Welt, und es entstand eine Parallelebene, in der die göttlichen Seelen der Menschen Gestalt annahmen.«
Jimmy machte eine Pause.
»Das heißt… Du behauptest, ihr seid die Seelen der Menschen? Und das hier«, ich zeigte um mich herum, »ist alles nicht real?«
»Ja und nein. Der Legende nach sind wir aus den Seelen der Menschen, aus deiner Welt entstanden. Aber wir sind genau so real, wie es deine Welt ist.«
Ich dachte an mein Leben in der Welt, die ich kannte und die ich bisher für die Einzige hielt. Ich fühlte mich noch nicht bereit, die Geschichte zu glauben oder zu begreifen.
»Wir hielten das auch für nichts weiter als eine Geschichte. Wir haben noch nie jemanden aus Deiner Welt gesehen oder davon gehört, dass es Deine Welt tatsächlich gibt, geschweige denn, dass man die andere Welt betreten könnte.«
»Du musst ein besonderer Mensch sein.«
Eve lächelte mich an, und ihr Blick war wie eine Umarmung, die ich mein ganzes Leben lang vermisst hatte ohne es zu wissen.
»Aber wie konnte ich dann überhaupt hierher gelangen? Und warum?«
»Das haben wir uns auch schon gefragt. Wir glauben, dass der alte Mann einer der überlebenden Mönche ist. Das würde erklären, wie der Name des Mönchs in deine Welt gelangen konnte oder wie Du in unsere Welt gekommen bist.«
»Aber dann müsste dieser Ming Shu ja schon mehrere hundert Jahre alt sein.«
»Ja, so abwegig ist das nicht.«
»Ihr seid unsterblich?«
Ich schnappte nach Luft.
»Nicht ganz, aber das ist kompliziert. Wir denken jedenfalls, dass der Mönch von dir gefunden werden wollte. Wir wissen nicht, was ihn dazu bewogen haben könnte, aber er scheint dir einen Schlüssel gegeben zu haben.«
»Das Tattoo!«
Meine Finger berührten mein Schlüsselbein. Eve schüttelte den Kopf.
»Dein Drache hat es sich an Deiner Schläfe bequem gemacht. Seine Schwanzspitze pendelt gemütlich unter Deinem Ohrläppchen.«
»Das ist nicht mein Drache!«
Ich fingerte entsetzt an meinem Haaransatz herum. Reflexartig zog ich die Hand wieder weg, als meine Fingerkuppen anfingen zu brennen.
»Er schnappt nach Dir. Vielleicht lässt Du ihn einfach in Ruhe?« Eve beobachtete den Drachen interessiert.
»In Ruhe lassen? Wie würdest Du Dich fühlen, wenn ein Tattoo als Blume oder Drache erscheint, wie es lustig ist und dann auch noch auf Deinem Körper auf Wanderschaft geht?«
»Das Tattoo ist der Schlüssel. Wir müssen herausfinden, wie genau es funktioniert und was das mit Dir zu tun hat.«
»Genau. Zwischen den Monden ist es scheinbar unbrauchbar, denn sonst hättest Du uns bei deinem Spaziergang ja gleich gefunden.«
Giselle malte mit ihrem Finger unsichtbare Zeichen auf die Tischplatte.
Eve, mein Seelen-Ich, schaute mich fragend an.
»Sandy ist nicht dein wirklicher Name, oder?«
Wortlos schüttelte ich den Kopf.
»Ich heiße Evelyn«, antwortete ich leise.
Bei diesen Worten zwirbelte Giselle nachdenklich ihre Locken um einen Finger.
»Wenn es wirklich Ming Shu war, dann hat er dir nicht ohne Grund den Weg in unsere Welt gezeigt.«
Ich schaute Eve an. Es war so, als wenn ich in meine eigenen Augen, in meine eigene Seele, die ich soeben verloren hatte, blicken würde. War sie es wirklich, und war ich bisher seelenlos gewesen? Denn dann war ich nicht mehr als ein trüber Abklatsch ihrer selbst und nicht umgekehrt. Dieser Gedanke überforderte mein Gehirn. Ich war nie religiös gewesen. Wenn Eve und ich auf diese wie auch immer entstandene Magie verbunden waren, was waren wir dann ohne den anderen? Was blieb von mir übrig? Hier und jetzt, in ihrer Nähe fühlte ich mich sicher. Verwirrt, aber sicher.
»Wenn Du willst, helfen wir dir herauszufinden, was der Mönch gemeint hat.«
»Und wie ich den Drachen wieder loswerde!«
Ich schielte mit den Augen nach rechts und links, obwohl mir klar war, dass ich ihn nicht sehen konnte. Als ob der Drache das gemerkt hätte, zwickte es kurz an meinem Ohrläppchen.
Eve schaute mich an.
»Auch das, falls das überhaupt möglich ist.«
»Na, dann los. Und Du hörst auf, auf mir rumzuwandern«, sagte ich in Richtung des Drachen.
Ich hatte eine Grenze überschritten, von der es kein Zurück mehr gab. Ich wollte das Geheimnis entschlüsseln.


Eve – Das Tattoo ist derzeit noch ein WIP (work in progress) …