Die Welt wartet nicht. Früher war das anders. Oder ist das nur eine altersbedingte Wahrnehmung? Die Welt dreht sich und die Informationen, die durch den Äther rauschen, erscheinen mir wie die Rücklichter, die im Zeitraffer zu einem namenlosen roten Strom werden. Im Alltag fühle ich mich oft wie ein Blutkörperchen in diesem Fluss gefangen. Ich kann nicht anhalten, nicht aussteigen, mich nicht einmal gegen den Strom bewegen. Monotones vorwärts drängen.
Als Kind erschien mir ein Buch zu lesen als die sinnvollste Möglichkeit zu sein.
Auf dem Boden sitzend an die Heizung gelehnt in dem kleinen Zimmer mit dem Dachfenster. Der Blick nach draußen ohne Grenzen. Der Blick nach innen unendlich. Ich habe auf jeden neuen Band von Lucy Maud Montgomerys „Anne of Green Gables“ gefiebert, die gab es zu Weihnachten und zum Geburtstag. Mit kindlicher Glückseligkeit jede Zeile eingeatmet und jedes Umblättern bedauert, weil die gelesenen Wörter und Sätze nun nicht mehr neu und unberührt auf mich warteten. Ich habe früh Hermann Hesse gelesen. Mit 17. Ist das überhaupt früh? Der Grundstein war ja schon da, aber der Demian hat mit einem Fingerschnipsen das innere Haus erwachen lassen. Nicht zögerlich, nicht zaghaft. Poetisch wie die Morgensonne den Nebel weichen lässt und dort stand es nun.
Eine Freundin hat vor ein paar Jahren eine Schreibübung mit mir gemacht: Das Haus Deiner Kindheit.
Wenn ich mir vorstelle, daß dieses Haus mein Innen ist, dann ist jedes Buch, welches ich lese, ein neuer Raum, der sich für mich öffnet.
Jede Geschichte hat ihre eigenes Mobiliar, ihr eigenes Fenster nach draußen in diesem Drinnen.
Ich kann mich in den Garten setzen, den Strom ausblenden, mich weigern ein braves Blutkörperchen zu sein. Ich kann die Haustür aufstoßen, müde und mit schwindender Kraft und sie entschlossen wieder hinter mir schließen. Ich kann durch dieses Haus wandern und neue und alte Räume erkunden. Längst vergessene kleine Kammern, deren Eingänge sich fast unsichtbar in der Wand verbergen. Ich kann große Räume durch Flügeltüren betreten, die mich mit ledernen Sesseln einladen zu bleiben, in der Erinnerung zu lesen. Ich liebe die Treppen in diesem Haus. Breite, geschwungene Handläufe geleiten mich, schmale, abgetretene Stufen führen mich in immer weiter entfernte Flure, Absätze und Emporen, auf denen man stehen, verweilen, um sich schauen kann.
Manche Korridore sind verlassen, düster, staubig, vergessen von mir. Ganze Hausflügel sind licht und hell, bewohnt von heiter schnatternden Gedanken und Begebenheiten. Die Wörter aus den Büchern, die in diesem Haus leben, huschen durch die Gänge, wispern hinter samtenen Vorhängen, kichern und lachen und necken. Ich kann in diesem inneren Haus der Bücher zur Ruhe kommen, ankommen. Ich brauche keine vorwitzigen Besucher, die Bücher aus den Regalen reißen und sie nicht ordentlich an ihren Platz zurückstellen. Ich kann auf Entdeckungstour gehen, die geflüsterte Einladung annehmen und finde mich in einem Salon mit Louis-seize Stühlen und filigranem Teeporzellan wieder, obwohl ich grad erst die knarrende Dachstiege herunter balancierte.
Ich höre auch das ferne Stöhnen, das unterdrückte Beben der Wände, die den Schmerz zurückhalten. Diese Räume sind gefährlich, denn nichts gehorcht der Wirklichkeit weniger als die Federn, die sich hier selbst in Tinte tauchen und unaufhörlich über das Papier kratzen. Wie kostbarer Nektar bildet sich das Schreibblut, das der Schmerz der Seele entzieht. Die Melodie des Schreibens, das Geräusch verlockt, hypnotisiert und in der schreibenden Stille dieses Labyrinths aus Stuben ist selbst der heitere Saal mit Kindergeschichten so weit entfernt, daß er nicht mehr wahr erscheint. Alles verliert in dem Scharren der Federspitzen seine Bedeutung. Schreiben, unaufhörlich, nicht anhalten im Strom der Tinte Wörter und Sätze aneinander reihen.
Ich lese. Ich lese, um das innere Haus zu ergründen, um einen Moment des Friedens zu finden, einen Weg aus dem Labyrinth. Ich lese, um Räume mit Licht und Wärme zu füllen und die Schreibfedern in Schach zu halten. Ich lese, um Türen zu öffnen, Zimmer zu entdecken. Und ich lese, um Antworten zu finden.